Opas Grab ist sauber und robust und der einzige weiße Fleck weit und breit. Ich lege die Kartoffeln ab, den Schnaps, den Wein, die Gläser, der Marmor glänzt schon vom Regen. Es gibt keine Partisanen mehr, sage ich zu Miki. Er hört nicht zu.
In den Stein gerahmt ist ein ovales Bild: mein schwarzweißer Opa sieht mich an und sieht in mich, lauscht mit den Augen und weiß schon, wie alles ausgehen wird.
An der Stelle, wo ich mir Opas Kopf vorstelle, bohrt Oma die Erde mit einem Löffel auf und steckt eine Zigarette in das Loch.
Opa hat doch gar nicht geraucht, sage ich.
Heimlich, sagt Oma, und Miki zündet seinem Vater und sich die Zigaretten an. Das Grab ist eine Festtafel, es regnet immer heftiger, wir setzen uns auf den Rand, essen jetzt noch einmal. Die Asche von Opas Zigarette krümmt sich. Der Regen trifft die Zwiebeln, trifft die Kartoffeln und schlägt gegen den Deckel vom Paprikatopf. Ich esse, als hätte ich seit Tagen gehungert, manchmal legt jemand etwas auf das Grab, eine Gurke, eine Scheibe Brot mit Griebenschmalz, ich salze das Brot und salze die Erde mit, bohre selbst ein Loch hinein, fülle es mit Schnaps. Ja, das ist gut, vier Krsmanovićs an einem Ort, sagt Ur-Opa und richtet die Augen gen Himmel. Weißt du eigentlich, mit wem du dich anlegst, Regen, du Esel?
Der Regen weiß es nicht, kommt in Wellen über uns, und als Oma sagt: wie viel Glück mein Mann verdient hat, und ich sage: wie viele Geschichten mein Opa gegeben hat, und Ur-Opa fragt, wie viel Schnaps noch da sei, und Miki Opa mit feuchtem Brot füttert und sagt: es gibt nichts, worauf wir gemeinsam stolz sein würden, Vater, und an nichts sind wir zusammen schuld, als wir das alles sagen, kann niemand mehr wissen, wer gerade wie heftig weint. Ich weiß auch nicht, wann Ur-Oma zu uns getreten ist, ich sehe nur, dass sie vor dem Grabstein auf die Knie geht und Opas Foto küsst, jedes Auge einmal.
Mein Kind, mein Kind, hätte ich tausend geboren, wäre mir kein Herz so gelungen wie dein Herz. Ur-Oma küsst das feuchte Grab, dann mit Erde am Mund ihren Mann, der im Regen länger und länger wird. Sie kann nur seine Schulter küssen, von den Zehenspitzen aus. Mit ihrem hölzernen Kamm kämmt sie sein nasses Haar, immer wieder sticht sie in die vom Wind verknoteten Strähnen.
Ich esse und trinke und esse und trinke und esse, der Regen läuft mir den Nacken herunter, Opas Zigarette ist aufgeraucht. Ur-Oma reicht mir Zauberstab und Hut. Der Hut passt mir noch, der Stab ist, wie die ganze Welt, kleiner als in meiner Erinnerung. Miki grinst mich an, ich trete zu ihm, unsere Brustkörbe berühren sich, ich sehe die Poren in seinen Wangen, ich nehme den Hut ab und will ihn Miki aufsetzen, er schlägt meine Hand weg, jemand schubst jemanden, der Hut und der Stab landen im Matsch. Es donnert über und hinter mir und links und rechts gleichzeitig, gibst du mal Ruh!, singt Ur-Opa und schüttelt die Faust in die Wolken. Ur-Oma zieht ihre Augenklappe auf, Miki löst seine Krawatte.
Opa, nicht alle deine Geschichten habe ich behalten, aber einige eigene habe ich aufgeschrieben und werde sie dir vorlesen, sobald der Regen aufhört. Die Idee habe ich von Nena Fatima, die Stimme von Opa Rafik, das Buch, aus dem ich lese, von Oma, die Adern an den Unterarmen von deinem Sohn, der jetzt Kokosnüsse malt, die Schwermut von meiner Mutter. Mir fehlt alles, um meine Geschichte als einer von uns zu erzählen: Drinas Mut fehlt mir, die Stimme des Falken, das felsenharte Rückgrat unserer Berge, Walross’ Unbeirrbarkeit und der Enthusiasmus des ehrlich Vermissenden. Aber auch Armin, der Stationsvorsteher, fehlt mir, Čika Hasan und Čika Sead im ewigen Streit, Kikos Bein, Edin, der vergisst, dass er gerade einen Wolf nachahmt und vor der eigenen Stimme erschrickt, die »Mündung« fehlt, unser Garten, man hat ihn betoniert, die Karfiol, die Namen der Bäume, der Magen für den Schnaps, die Fußballtore im Schulhof. Du fehlst. Und die Wahrheiten, sie fehlen mir am meisten, solche Wahrheiten, in denen wir nicht mehr Zuhörer oder Erzähler sind, sondern Zugeber und Vergeber. Unser Versprechen, immer weiterzuerzählen, breche ich jetzt.
Eine gute Geschichte, hättest du gesagt, ist wie unsere Drina: nie stilles Rinnsal, sie sickert nicht, sie ist ungestüm und breit, Zuflüsse kommen hinzu, reichern sie an, sie tritt über die Ufer, brodelt und braust, wird hier und da seichter, dann sind das aber Stromschnellen, Ouvertüren zur Tiefe und kein Plätschern. Aber eines können weder die Drina noch die Geschichten: für beide gibt es kein Zurück. Das Wasser kann nicht umkehren und ein anderes Bett wählen, so wie kein Versprechen jetzt doch gehalten wird. Kein Ertrunkener taucht auf und fragt nach einem Handtuch, keine Liebe findet sich doch, kein Trafikant wird gar nicht erst geboren, keine Kugel schießt aus einem Hals zurück ins Gewehr, der Staudamm hält oder hält nicht. Die Drina hat kein Delta.