Und weil man nichts rückgängig machen kann, hättest du dich und uns ausgedacht, wie wir auf dir sitzen und essen, Bilder für den Regen hättest du dir ausgedacht, und Oma, wie sie dir eine zweite Zigarette in deinen Mund aus Erde steckt, dann Ur-Oma, die mich zum Duell herausfordert, mal sehen, ob du mir nach zehn Jahren im wilden Westen endlich das Wasser reichen kannst.
Der Regen ist schwer und kalt. Nass bis auf die Haut schleppen wir das Geschirr und das aufgeweichte Brot zum Haus zurück. Mir ist schwindlig, es gibt keinen Himmel mehr. Ur-Opa kann den Wind nicht länger festhalten, der entwischt, wird stärker, im Hof kullert einer der Steine vom Tisch, das Laken löst sich und hebt ab. Ur-Oma bleibt stehen, nicht das gute, murmelt sie, nicht das gute. Ur-Opa fasst sich an den Rücken und lacht vor Schmerzen. Das Laken zieht durch den Regen, wie kann es so nass fliegen, frage ich mich, dabei ist es längst vor Ur-Omas Füßen gelandet, sie wickelt Miki hinein.
Mein Telefon klingelt. Ur-Opa beugt sich, als wolle er etwas aufheben, die Hand am Rücken, und ich gehe ran: Pfeifen und Rauschen und die Stimme einer Frau. Was?, rufe ich, nichts. Das Rauschen wird zu einem Regenguss an Stimmen, es ist, als lausche ich zwei Millionen Telefonaten auf einmal, ich kann keinem folgen, Rückkopplung, die Stimmen weg. Ur-Oma rollt Miki unter den Tisch, ich presse die andere Hand ans andere Ohr und stelle mich auf die Veranda, das Dach über meinem Kopf kappt plötzlich alle Geräusche im Telefon. Ich trete zurück in den Regen, Knacken, laufe über den Hof, rutsche die Böschung hinab, die Frauenstimme. Asija?, rufe ich erst leise, dann lauter: Asija? Verrauscht kommt die Antwort, ist es überhaupt eine Antwort: Aleksandar. Wer ist da?, frage ich und meine Stimme pfeift, wer ist da?, als Echo zurück, ich muss mich setzen, ich habe unglaublich viel gegessen und getrunken und das zweimal, ich kann jetzt nicht mehr, ich lasse mich jetzt fallen, ich liege jetzt da, inmitten der summenden Süße eines Regens an Stimmen, wo?, heult es zweimillionenfach, mir ist übel, ich kann nicht mehr, über mir, einen, vielleicht zwei Meter über mir – die Wolken. Der Regen füllt mir den Mund, Stimmen wie Fliegen im Ohr. Ja, sage ich, ich bin jetzt hier. Aleksandar?, sagt die Frauenstimme, und es ist ein Fluss, in dem ich liege, meine eigene Regen-Drina habe ich bekommen, und ich sage: ich bin ja hier.
Dank an Katharina Adler, Martina Bachler, Nadja Küchenmeister, Benjamin Lauterbach, Michael Lentz, Thomas Pletzinger, Ilma Rakusa, Simon Roloff und Leipzig für die Unterstützung.
Dank an Goran Bogdanović, Hamdo Oprašić, Kristina und Petar Stanišić, Mejrema und Hamed Hećimović und Višegrad für die Geschichten.
Ohne sie wären Aleksandars Augen und Ohren nie so groß geworden.
Dank an das Künstlerhaus Lukas in Ahrenshoop für die Ruhe, den Schutzraum und die Dünen.
Dank an das Kulturreferat der Landeshauptstadt München und die Villa Waldberta für das Vertrauen, den Sport und den Starnberger See.
»Wie der Soldat das Grammofon repariert« wurde im Rahmen des Grenzgänger-Programms von der Robert Bosch Stiftung gefördert.
© 2006 Luchterhand Literaturverlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH Satz: Greiner & Reichel, Köln
eISBN 9783641015435
www.luchterhand-literaturverlag.de
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Table of Contents
Widmung
Inhaltsverzeichnis
Wie lange ein Herzstillstand für hundert Meter braucht, wie schwer ein Spinnenleben wiegt, warum mein Trauriger an den grausamen Fluss schreibt und was der Chefgenosse des Unfertigen als Zauberer draufhat
Wie süß Dunkelrot ist, wie viele Ochsen man für eine Wand braucht, warum das Pferd von Kraljević Marko mit Superman verwandt ist und wie es sein kann, dass ein Krieg zu einem Fest kommt
Wer gewinnt, wenn Walross pfeift, wonach ein Orchester riecht, ab wann man Nebel nicht mehr schneiden kann und wie eine Geschichte zu einer Abmachung wird
Wann Blumen Blumen sind, wie Mister Hemingway und Genosse Marx zueinander stehen, wer der wahre Tetrismeister ist und wofür Bogoljub Balvans Schal sein Gesicht herhalten muss
Wann etwas ein Ereignis ist, wann ein Erlebnis, wie viele Tode Genosse Tito hat und wie der ehemals gefeierte Dreierschütze hinter das Lenkrad eines Centrotrans-Busses gelangt
Was Milenko Pavlović, genannt Walross, von seiner schönen Reise mitbringt, wie das Bein des Stationsvorstehers zum Leben erwacht, wofür man Franzosen gebrauchen kann und warum die Anführungsstriche überflüssig sind
Wohin schlechter Musikgeschmack führt, was der Dreipunktemann anprangert und wie schnell ein Krieg ist, wenn er einmal Anlauf genommen hat
Was wir im Keller spielen, wie die Erbsen schmecken, warum die Stille ihre Zähne fletscht, wer richtig heißt, was eine Brücke aushält, warum Asija weint, wie Asija strahlt
Wie der Soldat das Grammofon repariert, was Genießer trinken, wie wir schriftlich in Russisch stehen, warum Döbel Spucke essen und wie es sein kann, dass eine Stadt zersplittert
Emina auf den Armen durch ihr Dorf getragen,
26. April 1992