Sie nahmen zusammen ein reichlich spätes Frühstück ein. (Das Frühstück war für Frau Rickert eine so köstliche Mahlzeit, daß sie mit Vergnügen zweimal an einem Tage frühstückte.) Danach mußte Timm haargenau erzählen, was er seit seiner Abreise aus Hamburg erlebt hatte. Und das tat er mit sichtbarem Vergnügen.
Er schwenkte eine Zeitung in seiner Hand und schrie: „Sensazione! Senzazione! II Barone Lefuet e morto! Un ragazzo di quattordici anni adesso il piü ricco uomo del mondo! Sensazione! “
„Wie hübsch er geworden ist!“ dachte Frau Rickert, als sie Timm ansah. „Und wie gut er ausländisch reden kann!“ Dann lauschte sie aufmerksam der Erzählung.
Timm erzählte der alten Dame seine Abenteuer, als ob es sich um eine Komödie handele, um ein Lustspiel. Jetzt, da er im Besitz seines Lachens war, wirkte vieles komisch, was vordem schrecklich gewesen war. Er erzählte von den verrückten Wetten mit Jonny, vom Ende des Kronleuchters im Hotel „Palmaro“, von den Bildern in Genua und Athen, von den Verschwörungen im Schloß, von Selek Bei, vom Margarine-Unternehmen, von der Weltreise, von der Heimkehr nach Hamburg, von der Stiefmutter und Erwin und von der schwarzen Stunde der Straßenbahnen.
Dann war die alte Dame an der Reihe zu erzählen. Und sie tat es mit sichtlichem Behagen: „Weißt du, Timm, als du nicht wiederkamst aus Genua und als hier zuerst der Herr Kreschimir auftauchte und dann der starke Jonny, da ahnte ich gleich etwas. Man wollte mir nicht sagen, was los war. Ich hab’ nämlich einen Herzklappenfehler. Aber den hab’ ich jetzt schon über achtzig Jahre, und allmählich haben wir uns aneinander gewöhnt, der Herzklappenfehler und ich. Ich hab’ also ein bißchen spioniert, und da hab’ ich den Brief gefunden, den du aus Genua geschrieben hast. Na, da wußte ich denn ja ‘n büsehen mehr, noch?“
Die alte Frau, die Timm jetzt für einen jungen Herrn ansah und sich deshalb bemüht hatte, „gebüldetes Hochdeutsch“ zu reden, fiel wieder in ihre hamburgische Mundart.
„Ich hab ümmer s-pioniert, wenn Krüschan mit ‘n Herrn Kreschimir oder mit ‘n s-tarken Dschonny geschnackt hat. Sie kam’ ja noch allzuoft, weil sie auf Dock arbeiten mußten. Andere Arbeit haben sie einfach noch bekomm’. Das war, als ob’s mit ‘n Teufel zuging. Na, und mit dem ging’s denn ja wohl auch zu, noch? Jedenfalls hab’ ich ümmer allns mitgekriegt, was geschnackt wurde. Ich hab auch gewüßt, daß mein Sohn seine S-tellung verloren hat, obwohl er mir das verheimlicht hat.“
„Ist er wirklich Hafenarbeiter geworden?“ unterbrach Timm.
„Ja, mein Jung, das ‘s er tatsächlich gewesen. Du weißt vielleicht nich, wie das is in Hamburg, Timm. Da is allns so ganz gediegen, wenn du das vers-tehst. Wenn einer aus’n seriösen Posten entlassen wird und man munkelt irgendwas - auch wenn’s man nur dummer Schnack ist - denn nimmt ihn keiner mehr ins Kontor. Vers-tehst du?“
Timm nickte.
„Na, ich hab’ ja Vermögen. Meistens inPapier’n.“
„In Aktien?“ fragte Timm.
„Ja, in Aktien, mein Jung. Vers-tehst du nun ja auch’n büschen was von, noch? Also, wie gesagt, mein Sohn hätt’ ja überhaupt nich als Hafenarbeiter geh’n müss’n, weil ich vermögend bin. Aber er is nun mal so’n Mensch, der immer rackem muß. Und ohne Hafen wird er einfach tüterig. Deshalb is er als Hafenarbeiter gegang’. Hat sich aber erst auf den Docks umgezogen. Immer picobello aus’n Haus und picobello wieder von der Arbeit zurück. Hat gedacht, ich merk nix von seiner neuen S-tellung, weil ich meistens zu Hause rumsitz. Aber es gibt ja’n Telefon, noch?“
Timm mußte über die alte Frau lachen, und Frau Rickert lachte mit.
„Ich bün ja ‘ne alberne alte Gans... nee, nee, ich weiß, daß ich das bün... aber so dumm bün ich ja denn doch nich. Ich hab’ auch zuerst mit’n Herrn Selek Bei geschnackt, als der hier antelefoniert hat. Na, und da haben die Herren Verschwörer mich endlich doch aufgeklärt. Hab’ natürlich so getan, als hätte ich nix gewußt. Hab’ dauernd Kulleräugen gemacht und gepiepst: Ischa nich möööglich! Und so. Na, jedenfalls wurde ich eingeweiht. Und ich hab’ auch den Zettel für dich geschrieb’m. Mit der Lupe. Das haben wir als Schulmädchen nämlich tagelang geübt. Da war ich immer perfekt in. Hab mal’n ganzen Roman auf die zwei Seit’n von ein’ Briefbogen gekritzelt. Wirklich wahr! “
„Ischa nich möööglich!“ lachte Timm.
„Ach, du nimmst mich ja nich ernst, du Bengel!“
Es läutete an der Haustür, und Frau Rickert bat Timm, nachzusehen, wer es sei. Es war der rothaarige Page des Hotels, der schwitzend zwischen sieben Koffern stand.
„Ich soll Ihnen Ihre Sachen bringen, Herr Thaler!“ grinste er.
„Gestern haben Sie mich noch Mister Brown genannt. Woher wissen Sie heute, wer ich bin?“
Wieder ein Grinsen: „Sie lesen wohl keine Zeitungen?“
„Ach so!“ Timm war etwas verwirrt. Dann wollte er in die Tasche greifen. Aber der Rotschopf winkte ab. „Behalten Sie ruhig Ihre Kröten für sich, Herr Thaler! Ich kann von der Zeitung ‘n Batzen Geld kriegen, wenn ich erzähl’, wie ich gestern abend den Detektiv weggeködert hab’. Darf ich?“