Er inte ziellos durch die Straßen, und als er am Rande des Stadtparks an jener Erkerwohnung vorbeikam, in der er als ganz kleiner Junge gelacht und „tuff, tuff, tuff, Ameerika“ gerufen hatte, kam ihn ein solches Jammergefühl an, daß ihm beinahe übel davon wurde. Aus dem Fenster seines ehemaligen Kinderzimmers sah ein fremdes Mädchen heraus, das eine teure, kostbar angezogene Puppe im Arm hielt. Als sie Timms Blicke bemerkte, streckte sie ihre Zunge heraus, und Timm ging rasch weiter.
„Wenn ich sehr viel Geld hätte“, dachte er unter dem Herumirren, „dann würde ich eine große Wohnung mit einem eigenen Zimmer für mich mieten, und Erwin bekäme jeden Tag Taschengeld von mir, und die Mutter könnte einkaufen, was sie wollte.“ Aber das war ein Traum, und Timm wußte es.
Ohne sich dessen bewußt zu sein, war er jetzt unterwegs zur Pferderennbahn, die er an den glücklichen Sonntagen mit seinem Vater zusammen besucht hatte, als der Vater noch lebte.
Das erste Rennen näherte sich gerade seinem Höhepunkt, als Timm zur Pferderennbahn kam. Die Zuschauer brüllten und pfiffen, und immer öfter und immer lauter ertönte der Name „Ostwind“.
Timm stand da und atmete schwer, und das hatte zwei Gründe. Erstens war er gelaufen, und zweitens schien ihm plötzlich, irgendwo zwischen diesen schreienden, lärmenden Leuten müsse sein Vater stehen. Er hatte mit einem Male das Gefühl, wieder zu Hause zu sein. Dies war der Ort, an dem er mit dem Vater allein gewesen war. Ohne Stiefmutter. Und ohne Erwin. Alle Sonntage mit dem Vater waren in dieser Menschenmenge, in diesem Lärmen und Schreien versammelt. Es gab keinen Friedhof mehr und keine Tränen. Timm fühlte sich merkwürdig ruhig, beinahe heiter. Als die Menge der Zuschauer plötzlich aufjubelte und wie aus einem Munde der Name „Ostwind“ aufklang, lachte Timm sogar sein drolliges Lachen mit dem Schlucker am Schluß. Er erinnerte sich nämlich an eine Bemerkung seines Vaters, der gesagt hatte: „Ostwind ist noch jung, Timm, zu jung vielleicht; aber eines Tages wird man von ihm sprechen.“
Und jetzt sprach man von „Ostwind“; aber der Vater hatte es nicht mehr erlebt. Timm wußte selbst nicht, warum er darüber hatte lachen müssen. Aber er dachte auch nicht darüber nach. Er war noch nicht in dem Alter, in dem man sich über sich selbst viel Gedanken macht.
Ein Herr in Timms Nähe, der das drollige Lachen gehört hatte, drehte mit einem Ruck den Kopf und betrachtete den Jungen aufmerksam. Er strich sich nachdenklich das lange Kinn und ging dann kurz entschlossen auf den Jungen zu, aber so, daß er haarscharf an Timm vorübereilte und ihm dabei auf den Fuß trat.
„Verzeihung, Kleiner“, sagte er dabei. „Es war nicht meine Absicht.“
„Das macht nichts“, lachte Timm. „Ich habe sowieso staubige Schuhe.“ Dabei warf er einen Blick auf seine Füße und sah plötzlich vor sich auf dem Rasen ein blankes Fünfmarkstück liegen. Der Herr war weitergeeilt, und niemand stand in Timms Nähe. Da setzte der Junge rasch einen Fuß auf die Münze, sah sich mißtrauisch um, tat, als wolle er seine Schnürsenkel binden, hob schnell und verstohlen das Geldstück auf und ließ es in die Tasche gleiten.
Betont langsam schlenderte Timm weiter, als ein langer dürrer Herr in einem karierten Anzug auf ihn zutrat und fragte: „Na, Timm, willst du wetten?“
Der Junge sah verstört zu dem Unbekannten auf. Er bemerkte nicht, daß es derselbe Herr war, der ihn kurz zuvor auf den Fuß getreten hatte. Der Fremde hatte einen Mund wie ein Strich und eine schmale Hakennase, unter der ein ganz dünner schwarzer Schnurrbart saß. Über stechenden, wasserblauen Augen hatte er eine Ballonmütze tief in die Stirn gezogen. Und die Mütze war so kariert wie der Anzug des Unbekannten.
Timm fühlte, als der Herr ihn so unvermittelt ansprach, einen Kloß in der Kehle. „Ich... ich habe kein Geld zum Wetten“, brachte er schließlich stockend hervor.
„Doch, du hast fünf Mark“, sagte der Fremde. Dann fügte er in leichtem Ton hinzu: „Ich sah zufällig, wie du das Geld fandest. Falls du damit wetten willst, nimm diesen Schein. Ich habe ihn schon ausgefüllt. Eintodsicherer Tip.“
Timm, der abwechselnd blaß und rot geworden war, bekam jetzt im Gesicht langsam seine natürliche Farbe zurück, eine Art Haselnußbraun (ein Erbteil seiner Mutter). Er sagte: „Kinder dürfen nicht wetten, glaube ich.“ Und wieder sprach er mit Stocken.
Aber der Fremde ließ nicht locker. „Dieser Rennplatz“, sagte er, „ist einer der wenigen, auf denen Kindern das Wetten nicht ausdrücklich verboten ist. Ich gebe zu, daß es auch nicht ausdrücklich erlaubt ist; aber immerhin gestattet man es. Also, Timm, wie denkst du über meinen Vorschlag?“
„Ich kenne Sie ja gar nicht“, sagte Timm leise. (Erst jetzt fiel ihm auf, daß der Herr ihn mit seinem Vornamen angeredet hatte.)
„Aber ich weiß sehr viel von dir“, erklärte der Fremde. „Ich kannte deinen Vater.“