In den großen Städten mit den breiten Straßen gibt es hinten hinaus heute noch Gassen, die so eng sind, daß man sich durch die Fenster von einer Seite zur anderen die Hand reichen kann. Wenn fremde Besucher, die viel Geld und viel Gefühl haben, zufällig in so eine Gasse geraten, dann rufen sie: Wie malerisch! Und die Damen seufzen: Wie idyllisch und romantisch!
Aber das Idyllische und Romantische sind großer Humbug; denn hinten hinaus wohnen Leute, die wenig Geld haben. Und wer in einer großen reichen Stadt wenig Geld hat, wird grämlich, neidisch und nicht selten zänkisch. Das liegt nicht nur an den Leuten, sondern auch an den Gassen.
Der kleine Timm kam mit drei Jahren in so eine enge Gasse. Seine lustige, rundliche Mutter war gestorben, und der Vater mußte, da es zu jener Zeit wenig Arbeit gab, auf den Bau gehen. So zogen Vater und Sohn von der hellen Erkerwohnung am Rande des Stadtparks in die Gasse mit dem Kopfsteinpflaster, in der es beständig nach Pfeffer, Kümmel und Anis roch; denn in dieser Gasse befand sich die einzige Gewürzmühle der Stadt. Bald darauf bekam Timm eine dürre, mausgesichtige Stiefmutter und dazu einen Pflegebruder, der frech, verwöhnt und käsebleich war.
Timm war trotz seiner drei Jahre schon ein kräftiger kleiner Bursche, der besonders hübsch lachte und der einen Ozeandampfer aus Küchenstühlen oder em Auto aus Sofakissen ganz selbständig regieren konnte. Seine verstorbene Mutter hatte Tränen gelacht, wenn Timm mit Kissen und Stühlen seine großen Reisen zu Wasser und zu Lande unternahm und immerzu „tuff, tuff, tuff, Ameerika“ rief. Aber seine Stiefmutter prügelte ihn dafür. Und das konnte er nicht begreifen.
Audi den Stiefbruder Erwin begriff er schwer; denn der bewies seine brüderliche Liebe dadurch, daß er den kleinen Timm mit Brennholz bewarf oder daß er ihn mit Ruß oder Tinte oder Pflaumenmus beschmierte. Das Allerunbegreiflichste aber war, daß hinterher nicht Erwin, sondern Timm dafür bestraft wurde. Über all diesen Unbegreiflichkeiten in der Gassenwohnung verlernte Timm beinahe das Lachen. Nur wenn der Vater zu Hause war, ertönte noch sein kleines drolliges Gelächter mit dem Schlucker am Schluß.
Leider war der Vater jetzt meistens unterwegs, weil er auf einem weit entfernten Bau Arbeit gefunden hatte. (Vor allem deshalb, damit Timm nicht allein war, hatte er ja ein zweites Mal geheiratet.) Nur sonntags war er noch mit seinem Söhnchen zusammen. Dann nahm er den kleinen Timm bei der Hand und sagte zu der Stiefmutter: „Wir gehen spazieren.“ In Wirklichkeit ging er aber zur Pferderennbahn, wo er mit dem bißchen Geld, das er sich heimlich erspart hatte, auf Pferde wettete. Er hoffte, dabei eines Tages so viel Geld zu gewinnen, daß er mit seiner Familie die enge Gasse verlassen und wieder in eine hellere Wohnung ziehen könne. Natürlich war seine Hoffnung auf Wettglück vergeblich - wie bei den meisten Menschen. Er verlor beinahe regelmäßig, und wenn er doch einmal gewann, dann reichte der Gewinn knapp für ein paar Leckereien und ein Sonntagsbier und eine Straßenbahnfahrt.
Der kleine Timm hatte am Wettkampf der Pferde und Reiter wenig Vergnügen. Das alles war so weit von ihm entfernt und brauste viel zu schnell an ihm vorbei. Obendrein standen immer viel zu viele Menschen vor ihnen, so daß der Junge selbst von der Schulter des Vaters aus Mühe hatte, die Rennbahn zu überblicken.
Aber wenn Timm sich um die Pferde und die Reiter auch nicht kümmerte, so begriff er doch sehr bald, was es mit den Wetten auf sich hatte: Fuhren sie mit der Straßenbahn in die Stadt zurück und er bekam eine Rolle Drops, dann hatte der Vater gewonnen. Setzte der Vater ihn hingegen auf die Schulter und sie gingen ohne Drops und zu Fuß nach Haus, dann hatten sie verloren.
Aber ob sie verloren oder gewannen, war dem Jungen ganz egal. Er fand es auf den Schultern des Vaters genau so lustig wie in der Straßenbahn, eigentlich sogar noch lustiger.
Und die Hauptsache war, daß sie allein waren und daß Sonntag war und daß Erwin und die Stiefmutter weit, weit fort waren, als ob es sie überhaupt nicht gäbe.
Aber an sechs Wochentagen gab es die beiden leider doch. Dann ging es Timm genau so wie den Kindern in den Märchen, die schlimme Stiefmütter haben. Nur war es für Timm noch ein bißchen schlimmer; denn ein Märchen ist ein Märchen, das auf Seite eins beginnt und spätestens auf Seite zwölf zu Ende ist. Aber so eine tägliche Plackerei, und obendreinjahrelang, die will durchgestanden sein. Wenn es die Sonntage nicht gegeben hätte, dann wäre Timm aus lauter Trotz wahrscheinlich ein richtiger frecher Rotzjunge geworden. Doch weil es zum Glück die Sonntage gab, blieb er ein Junge, der sich freuen konnte und der sein Lachen nicht verlor, ein Lachen, das tief aus dem Bauch heraufzukommen schien und mit einem Schlucker endete.