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Krane und Gasometer verstellten den Horizont, Schornsteine spuckten träge ockerfarbenen Rauch in die niedrig hängenden Regenwolken. Wäre es nicht Sonnabend gewesen, Smiley hätte die öffentlichen Verkehrsmittel benutzt, doch an Samstagen wagte er sich ans Steuer, obwohl er mit dem Verbrennungsmotor auf Kriegsfuß stand. Er hatte die Themse an der Vauxhall Bridge überquert, Greenwich lag hinter ihm, und er fuhr jetzt durch das flache zersiedelte Hinterland der Docks. Während die Scheibenwischer hin- und herzitterten, krochen große Regentropfen durch die Karosserie seines armen englischen Kleinwagens. Mißmutige Kinder, die unter dem Schutzdach einer Bushaltestelle standen, riefen: »Nimm's Gas weg, Chef.«
Er hatte sich rasiert, ein Bad genommen, aber nicht geschlafen. Er hatte Wladimirs Telefonrechnung an Lacon geschickt mit der Bitte um sofortige Aufschlüsselung aller nachprüfbaren Anrufe. Sein Geist war klar, wurde aber von anarchischen Stimmungsschwankungen heimgesucht. Er trug den braunen Tweedmantel, den er immer auf Reisen benutzte. Er meisterte einen Kreisverkehr, fuhr eine Anhöhe hinauf, und plötzlich stand unter einem Aushängeschild, das einen rotgesichtigen Krieger darstellte, ein prachtvoller Pub im viktorianischen Stil vor ihm. Die Battle-of-the-Nile Street nahm hier ihren Anfang und führte zu einer Insel aus zertretenem Gras, und auf der Insel erhob sich die aus Stein und Klinker erbaute Sankt Saviour's Kirche, die den zerfallenden viktorianischen Lagerhäusern Gottes Botschaft verkündete. Ein Anschlag besagte, daß die Predigt am nächsten Sonntag von einem weiblichen Major der Heilsarmee gehalten werde, und vor dem Anschlag stand das Monstrum: ein zehn Meter langer knallroter Riesenlaster. Die Seitenfenster waren mit Fußballwimpeln bestückt, und eine Menge buntscheckiger Hotelaufkleber bedeckten eine der Türen. Der Laster war das größte Ding weit und breit, größer sogar als die Kirche. Irgendwo in der Ferne hörte Smiley, wie ein Motorrad verlangsamte und dann wieder beschleunigte, aber er nahm sich nicht einmal die Mühe, umzuschauen. Die vertraute Eskorte war ihm seit Chelsea gefolgt; doch Angst ist, wie er in Sarratt zu predigen pflegte, eine Ermessensfrage.
Smiley folgte einem Pfad durch einen gräberlosen Friedhof. Reihen von Leichensteinen begrenzten die Fläche, den Mittelpunkt bildeten ein Klettergerüst und drei neue Standard-Einfamilienhäuser. Das erste Haus hieß Zion, das zweite trug keinen Namen, und das dritte hieß Nummer Drei. Alle hatten breite Fenster, doch nur Nummer Drei besaß Spitzengardinen. Als Smiley das Gartentor aufstieß, war alles, was er sah, ein einzelner Schatten im Oberstock des Hauses. Der Schatten war zuerst unbeweglich, dann sank er in sich zusammen, als habe der Fußboden ihn aufgesogen. Blitzartig fuhr Smiley die schreckliche Frage durch den Kopf, ob er nicht soeben Zeuge eines weiteren Mordes gewesen sei. Er drückte auf die Klingel, und im Hausinneren explodierte ein Glockenspiel. Die Tür bestand aus geriffeltem Glas. Erpreßte ein Auge dagegen und sah einen braunen Treppenläufer und etwas, das ein Kinderwagen sein mochte. Er klingelte nochmals und hörte einen Schrei, der leise einsetzte und stetig anschwoll. Zuerst glaubte er, es sei ein Kind, dann eine Katze, dann ein Flötenkessel. Das Geräusch erreichte seinen Höhepunkt, verharrte dort eine Weile und brach dann jäh ab, weil entweder jemand den Kessel vom Feuer genommen hatte oder der Pfeifaufsatz weggesprungen war. Er ging zur Rückseite des Hauses. Sie unterschied sich in nichts von der Vorderseite, abgesehen von den Abflußrohren, einem Gemüsebeet und einem winzigen Goldfischbecken aus vorgefertigten Teilen. Im Becken war kein Wasser und folglich auch kein Goldfisch, doch eine gelbe Holzente lag umgestürzt auf dem Grund. Ihr Schnabel war offen, ihre Augen starrten in den Himmel, und ihre Räder drehten sich noch.
Der Fahrgast kaufte eine Holzente auf Rädern, hatte der Mini-Taxi-Chauffeur gesagt und sich dabei umgedreht, um mit seinen weißen Händen die Größe anzudeuten. »Gelbes Dings.«
An der Hintertür war ein Klopfer. Smiley schlug ihn leicht an und drehte den Türknauf, der nachgab. Er trat ein und schloß die Tür sorgfältig hinter sich. Er stand in einer Spülküche, die zur eigentlichen Küche führte, und das erste, was er in der Küche sah, war ein Wasserkessel, den jemand vom Gas gestellt hatte und aus dessen Pfeifdüse sich lautlos eine dünne Dampfspirale kringelte. Und zwei Tassen und einen Milchkrug und eine Teekanne auf einem Tablett.
»Mrs. Craven?« rief er leise. »Stella?«
Er durchquerte das Eßzimmer und stand in der Diele auf dem braunen Teppich neben dem Kinderwagen, und im Geist schloß er einen Pakt mit Gott: Bloß keine Toten mehr, bloß keine Wladimirs mehr, und ich werde Dich anbeten bis an unser Lebensende.
»Stella? Ich bin's. Max,« sagte er.