Und
er hat mich zu seinem Kurier erwählt, dachte der junge Mann stolz,
obgleich er in seinem Innersten überzeugt war, daß der alte Mann des Guten zuviel
getan habe. Gelassen hob er den gelben Umschlag auf, steckte ihn in seine
Jackentasche, zog den Reißverschluß zu und ließ die Finger darüber gleiten, um
sich zu vergewissern, daß die Krampen ineinander gegriffen hatten. Genau in
diesem Augenblick spürte er, daß er beobachtet wurde. Die Frau an der Reling
stand noch immer mit dem Rücken zu ihm, und wieder bemerkte er, daß sie sehr
hübsche Hüften und Beine hatte. Ihr kleiner Begleiter im schwarzen Mantel
jedoch, der so sexy wirkte, hatte sich umgedreht, und sein Ausdruck tat alle
die Hochgefühle ab, in denen der junge Mann gerade noch geschwelgt hatte. Nur
ein einziges Mal hatte er ein derartiges Gesicht gesehen, damals, als sein
Vater in ihrem ersten englischen Heim im Sterben lag, einem Zimmer in Ruislip,
ein paar Monate nach ihrer Ankunft in England. Der junge Mann hatte nie etwas
so Verzweifeltes, so tief Ernstes, so völlig Schutzloses bei irgend einem
anderen Menschen gesehen. Schlimmer noch, er wußte -genau wie die Ostrakowa es
gewußt hatte -, daß diese Verzweiflung im Widerspruch stand zum natürlichen
Ausdruck dieser Züge, denn sie waren die eines Komödianten - oder, wie die
Ostrakowa es ausgedrückt hatte, eines Magiers. So daß das leidenschaftliche
Starren dieses kleinen scharfgesichtigen Fremden mit seinem wütenden Flehen -
»Junge, du weißt gar nicht, was du da beförderst! Behüte es mit deinem Leben!«
- einen Blick hinter die Maske gewährte.
Das
Schiff hatte gestoppt. Sie waren am anderen Ufer angelangt. Der junge Mann
packte den Korb, sprang an Land und tauchte, fast im Laufschritt, zwischen den
geschäftigen Käufern von einer Seitenstraße in die andere, ohne zu wissen,
wohin sie führten.
Auf
der ganzen Rückfahrt sah der junge Mann, während das Steuerrad seine Arme
schüttelte und der Motor ihm seinen Takt in die Ohren hämmerte, dieses Gesicht
vor sich auf der nassen Straße und fragte sich, je länger er darüber
nachdachte, ob er sich das alles in der Aufregung der Übergabe nur eingebildet
habe. Wahrscheinlich war die echte Kontaktperson jemand ganz anderer,
überlegte er, um sich zu beruhigen. Eine dieser fetten Damen mit Filzhut
vielleicht. Ich war übererregt, sagte er sich. Im entscheidenden Augenblick hat
sich ein Unbekannter umgedreht und mich angeschaut, und ich habe ihm eine
ganze Geschichte angehängt, in ihm sogar meinen sterbenden Vater gesehen.
Als
er in Dover ankam, war er fast überzeugt, er habe den Mann aus seinem Denken
verdrängt. Er hatte die verdammten Orangen in einen Abfallkorb geworfen; der
gelbe Umschlag steckte wohlverwahrt in seiner Jackentasche, eine spitze Ecke
stach ihn in die Haut, und alles übrige zählte nicht. Er hatte Theorien über
seinen heimlichen Komplizen aufgestellt? Weg damit! Selbst wenn er aus reinem
Zufall recht gehabt haben sollte und es wirklich dieses eingefallene starrende
Gesicht gewesen war- na und ? Um so weniger Grund, es dem General
vorzuplappern, dessen Sicherheitsfimmel der junge Mann mit der unanfechtbaren
Besessenheit eines Sehers gleichsetzte. Der Gedanke an Stella verfolgte ihn
mit schmerzender Hartnäckigkeit. Sein Verlangen wuchs mit jeder lärmenden
Meile. Es war noch früh am Morgen. Er stellte sich vor, daß er sie mit seinen
Liebkosungen weckte; er sah, wie sich ihr verschlafenes Lächeln langsam in
Leidenschaft wandelte.
Der
Ruf erreichte Smiley in derselben Nacht. Da er in letzter Zeit den
entschiedenen Eindruck gehabt hatte, ganz und gar nicht gut zu schlafen, war es
merkwürdig, daß das Telefon am Bett lange läuten mußte, ehe er den Hörer
abnahm. Er war von der Bibliothek direkt nach Hause gegangen und hatte dann
später in einem italienischen Restaurant an der King's Road frugal zu Abend gegessen,
im Schutz der Newe Orientalische Reise des Olearius. Nach seiner
Rückkehr in die Bywater Street hatte er wieder die Arbeit an seiner Monographie
aufgenommen, mit der Hingabe eines Mannes, der nichts Besseres zu tun hat. Nach
ein paar Stunden hatte er eine Flasche Burgunder entkorkt und sie zur Hälfte
geleert, wobei er sich ein miserables Hörspiel anhörte. Er hatte unruhig
geschlafen, bis der Anruf kam. Sobald er jedoch Lacons Stimme hörte, hatte er
das Gefühl gehabt, daß man ihn aus einer warmen und liebgewordenen Geborgenheit
riß, in der er für immer hätte bleiben wollen. Obwohl er sich schnell bewegte,
hatte er den Eindruck, unendlich lange zum Anziehen zu brauchen; und er fragte
sich, ob es so wohl allen alten Männern ergehe, wenn eine Todesnachricht
eintraf.
3
»Haben
Sie ihn denn persönlich gekannt, Sir?« fragte der Detective Chief
Superintendent der Polizei respektvoll und in bewußt gedämpftem Ton. »Oder
vielleicht sollte ich besser nicht fragen.«