Jane und Penelope gingen zum Flüchtlingslager. Hier und da sammelten sich Menschen, um zu essen und zu trinken. Der Geruch von angebrannter Milch vermischte sich mit dem Gestank der Latrinen. Überall sah man die blauen Plastikplanen der Vereinten Nationen, die für alles Mögliche benutzt wurden, als Vorhänge, Windschutz, Laken. Hunderte weißer Zelte des Roten Kreuzes schlugen in dem Wind, der über die Ebene strich.
Penelope begleitete Jane in das große Zelt, in dem sich die Krankenstation befand. Das Sonnenlicht schien grau durch den weißen Stoff. Jane schaute durch ein Plastikfenster in die chirurgische Abteilung.
»Meine Krankenschwestern sind tüchtige Chirurgen geworden«, sagte sie leise. »Sie führen vollkommen eigenständig Amputationen und leichtere Operationen durch.«
Zwei schmale Jungen von etwa dreizehn Jahren trugen einen großen Karton mit Verbandsmaterial ins Zelt und stellten ihn vorsichtig neben einigen anderen Kartons ab. Sie kamen zu Jane, die sich bei ihnen bedankte und sie anwies, den Frauen zu helfen, die gerade eingetroffen waren und Wasser zum Auswaschen der Wunden benötigten.
Die Jungen gingen und kehrten kurz darauf mit Wasser in großen Plastikflaschen zurück.
»Sie haben zur arabischen Miliz gehört«, erläuterte Jane in Richtung der Jungen nickend. »Aber im Moment herrscht Ruhe. Weil es an Munition und Waffenteilen fehlt, gibt es eine Art Waffenstillstand, und die Leute wissen nicht recht, was sie tun sollen, viele haben angefangen, sich hier nützlich zu machen. Wir haben eine Jungenschule mit mehreren jungen Männern aus der Miliz in der Klasse.«
Auf einer der Pritschen wimmerte eine Frau, Jane eilte zu ihr und strich ihr über Stirn und Wangen. Sie schien noch keine fünfzehn Jahre alt zu sein, war aber trotzdem hochschwanger und hatte durch eine Amputation einen Fuß verloren.
Den ganzen Tag über arbeitete Penelope an Janes Seite, machte alles, was die andere Frau ihr sagte, stellte keine Fragen, sprach über nichts, tat nur alles dafür, dass Janes ärztliches Wissen möglichst optimal genutzt und möglichst vielen Menschen geholfen werden konnte.
Ein etwa dreißigjähriger Afrikaner mit einem schön geschnittenen Gesicht und muskulösen Schultern eilte mit einer kleinen weißen Schachtel zu Jane.
»Dreißig neue Dosen Antibiotika«, erklärte er strahlend.
»Sicher?«
Er nickte lächelnd.
»Gute Arbeit.«
»Ich ziehe gleich noch mal los und mache bei Ross weiter Druck, er hat davon gesprochen, dass wir diese Woche eine Kiste mit Blutdruckmessgeräten bekommen können.«
»Das ist Grey«, sagte Jane. »Eigentlich ist er Lehrer, aber ohne ihn würde ich es nicht schaffen.«
Penelope streckte die Hand aus und begegnete dem lebhaften Blick des Mannes.
»Penelope Fernandez«, sagte sie.
»Tarzan«, stellte er sich vor und reichte ihr die Hand zu einem losen Händedruck.
»Als er herkam, wollte er unbedingt Tarzan genannt werden«, kommentierte Jane lachend.
»Tarzan und Jane«, sagte er lächelnd. »Ich bin ihr Tarzan.«
»Am Ende habe ich mich darauf eingelassen, ihn Greystoke zu nennen«, erzählte Jane. »Aber das finden hier alle zu umständlich, sodass er sich mit Grey zufrieden geben muss.«
Plötzlich hupte vor dem Zelt ein Lastwagen, und sie liefen alle drei hinaus. Rund um das rostige Fahrzeug wirbelte rötlicher Straßenstaub auf. Auf der offenen Ladefläche lagen sieben Männer mit Schussverletzungen. Sie kamen von Westen, aus einem Dorf, in dem es wegen eines Brunnens zu einem Feuergefecht gekommen war.
Der Rest des Tages verging mit Notoperationen. Einer der Männer starb. Einmal wurde Penelope von Grey aufgehalten, der ihr eine Wasserflasche hinhielt. Penelope schüttelte gestresst den Kopf, aber er lächelte nur ruhig und sagte:
»Du hast genügend Zeit, um etwas zu trinken.«
Sie bedankte sich, trank das Wasser und half ihm anschließend, einen der verletzten Männer auf eine Liege zu heben.
Am Abend saßen Penelope und Jane erschöpft auf der Veranda einer Wohnbaracke und nahmen eine späte Mahlzeit zu sich. Es war immer noch sehr heiß. Sie plauderten und blickten die Straße hinunter, zu den Häusern und Zelten hinüber, beobachteten die Menschen, die in der Dämmerung die letzten Arbeiten des Abends erledigten.
Genauso schnell, wie es dunkel wurde, griff eine unheilverkündende Stille um sich. Anfangs hörte Penelope noch Menschen, die sich zurückzogen, das Rascheln aus den Latrinen und vereinzelte schleichende Bewegungen in der Dunkelheit. Doch schon bald war es vollkommen still, und nicht einmal die kleinsten Kinder weinten.
»Sie fürchten sich alle immer noch davor, dass die Truppen der Dschandschawid vorbeiziehen«, sagte Jane und sammelte die Teller ein.
Sie gingen hinein, schlossen die Tür ab, verriegelten sie und spülten anschließend gemeinsam. Sie wünschten sich eine gute Nacht, und Penelope ging zum Gästezimmer am hinteren Ende des Flurs.