Der Chronist fand die Tür zur Bibliothek mit einem Zauberbann versehen vor. Er war nicht besonders überrascht. Mit einem resignierenden Seufzer nahm er ein kleines Buch aus der Tasche seines Gewandes, setzte sich auf einen Stuhl und begann in seiner schnellen, fließenden Schrift zu schreiben. Die Ästheten kauerten sich um ihn, beunruhigt über die seltsamen Geräusche, die aus dem verschlossenen Raum drangen. Donner dröhnte und rollte und ließ die Grundmauern der Bibliothek erzittern. Durch den Türspalt war ein ständig flackerndes Licht zu erkennen, als ob es in dem Raum Tag wäre und nicht die dunkelste Stunde der Nacht. Das Heulen und Kreischen eines Windsturms vermischte sich mit den schrillen Schreien des Magiers; dumpfe Aufschläge mit dem Rascheln umherwirbelnder Blätter. Flammen züngelten unter der Tür hervor.
»Meister!« schrie einer der Ästheten entsetzt auf und zeigte auf die Flammen. »Er zerstört die Bücher!«
Astinus schüttelte nur den Kopf und schrieb unentwegt weiter. Dann plötzlich trat Ruhe ein. Das Licht, das unter der Bibliothekstür hervorgekommen war, erstarb, als wäre es von der Dunkelheit verschluckt worden. Zögernd näherten sich die Ästheten der Tür und lauschten. Nur ein schwaches Rascheln war noch zu vernehmen. Bertram legte seine Hand auf die Tür. Sie gab seinem sanften Druck nach.
»Die Tür ist offen, Meister«, sagte er.
Astinus erhob sich. »Wendet euch wieder euren Studien zu«, befahl er den Ästheten. »Hier könnt ihr nichts tun.«
Die Mönche verbeugten sich stumm, warfen der Tür einen letzten eingeschüchterten Blick zu, dann eilten sie in den Flur und ließen Astinus allein zurück. Er wartete einen Moment, bis sie verschwunden waren, dann öffnete er langsam die Tür. Silbernes und rotes Mondlicht strömte durch die kleinen Fenster. Die mit Tausenden von Buchbänden gefüllten Regale erstreckten sich in der Dunkelheit. Ausgesparte Löcher an den Wänden enthielten viele tausend Schriftrollen. Das Mondlicht fiel auf einen Tisch, auf dem sich ein Papierstapel häufte. Mitten auf dem Tisch stand eine tropfende Kerze, daneben lag ein geöffnetes nachtblaues Zauberbuch. Andere Zauberbücher waren auf dem Boden verstreut.
Als Astinus sich umsah, runzelte er die Stirn. Die Wände waren mit schwarzen Streifen überzogen. Ein starker Geruch von Schwefel und Feuer hing in der Luft. Papierbögen wirbelten hoch und fielen wie Laub nach einem Herbststurm auf einen Körper, der auf dem Boden lag.
Astinus schloß sorgfältig die Tür hinter sich. Dann näherte er sich dem Körper. Er sagte nichts, noch bückte er sich, um dem jungen Magier zu helfen. Er stellte sich neben Raistlin und musterte ihn nachdenklich.
Aber als er näher trat, berührte Astinus’ Robe die metallfarbene ausgestreckte Hand. Bei der Berührung hob der Magier seinen Kopf. Raistlin starrte Astinus mit Augen an, die sich bereits von den Schatten des Todes verdunkelt hatten.
»Du hast nicht gefunden, was du gesucht hast?« fragte Astinus, während er den jungen Mann mit kalten Augen musterte.
»Der Schlüssel!« keuchte Raistlin durch weiße, blutbefleckte Lippen. »Verloren… mit der Zeit!… Dummköpfe!« Seine Hand verkrampfte sich. Die Wut war das einzige Feuer, das noch in ihm brannte. »So einfach! Alle wußten es… niemand hat es aufgezeichnet! Der Schlüssel… alles, was ich brauche… verloren!«
»So endet also deine Reise, mein alter Freund«, sagt Astinus ohne jedes Mitgefühl.
Raistlin hob seinen Kopf, seine goldenen Augen glänzten fiebrig. »Du
»Es ist nicht mehr wichtig«, sagte Astinus. Er drehte sich um und schickte sich an, den Raum zu verlassen.
Hinter ihm ertönte ein durchdringendes Kreischen, eine Hand griff nach seinem Gewand und brachte ihn zum Stehen.
»Dreh mir nicht deinen Rücken zu, so wie du ihn der Welt zugedreht hast!« knurrte Raistlin.
»Meinen Rücken der Welt zugedreht…«, wiederholte der Chronist leise, sein Gesicht drehte sich dem Magier zu.
»Meinen Rücken der Welt zugedreht!« Aus Astinus’ kalter Stimme war selten eine Emotion herauszuhören, aber jetzt drang seine Wut in seine friedliche, gelassene Seele ein wie ein Stein, den man in stilles Wasser geschleudert hat.