Unter ihr, fünfzehn, zwanzig Meter tiefer und fünfhundert Meter entfernt, breitete sich die Wüste aus wie ein endloser gelbbrauner Ozean, dessen Wogen vor einer Million Jahre erstarrt waren, die Luft darüber flirrend vor Hitze und hier und da aufgewühlt von einer Sandhose oder einer Turbulenz – beides so schön wie tödlich. Davor, bis zum Fuß des Turmes reichend, erstreckte sich ein Kreis vollkommen ebener, zu Glas erstarrter Erde. Dunkle Löcher mit hellen Kernen gähnten in diesem Riesenspiegel wie eiterige Wunden, und hier und da war es dem Wind gelungen, ein wenig Sand auf der ansonsten makellosen Ebene abzuladen, der jetzt kleinere Brüder der gigantischen Riesenwogen draußen in der Wüste bildete. Und links von ihr, von ihrem Standpunkt hinter der eingestürzten Mauer nur zu einem kleinen Teil zu erkennen, erhob sich der Turm, eine gewaltige abgebrochene Nadel aus nachtschwarzem Stein, so hoch, daß er die Wolken aufgeschlitzt hätte, hätte es welche gegeben. Nichts von alledem war Tally fremd – sie hatte es zehnmal gesehen, und sie hatte sich jede noch so winzige Einzelheit schon bei ihrem allerersten Besuch hier am Ende der Welt eingeprägt. Aber sie hatte es noch nie aus
»Es ist also wahr«, murmelte sie. Irgend etwas in ihr weigerte sich noch immer, es zu glauben. Sie fühlte weder Triumph noch Freude, sondern nur eine dumpfe, fast schmerzhafte Benommenheit. Die letzten zehn Jahre ihres Lebens hatte sie praktisch nur für diesen Augenblick gelebt. Jetzt, als er da war, fühlte sie – nichts. Sie war betäubt.
»Esss war dhie einsssige Möglichkeit«, lispelte Hrhon neben ihr. Er sprach noch immer im Tonfall einer Entschuldigung, aber die Worte rissen Tally – zumindest teilweise – aus ihrer Betäubung. Mühsam wandte sie den Kopf, ließ Hrhons Schulter los und hielt sich statt dessen an einem Stein fest.
Der Boden hatte aufgehört, unter ihr zu zittern, und der heiße Wüstenwind, der durch die gewaltige Bresche hereinfauchte und sich an der gegenüberliegenden Wand brach, hechelte sie langsam in die Wirklichkeit zurück. Plötzlich wurde sie sich der Tatsache bewußt, daß sie vielleicht der erste lebende Mensch war, der dieses Gebäude betreten hatte.
Aber sie sahen allesamt sehr wenig wie Eroberer aus. Jetzt, im hellen Tageslicht, sah sie, daß die Schuppenhaut der beiden Waga mit zahllosen, erst halb verkrusteten kleinen Wunden übersät waren. Ihre Panzer glänzten unnatürlich, und an den Rändern waren die normalerweise fingerdicken Knochenschalen ausgefranst und auf die Stärke von brüchigem Pergament abgeschliffen. Und auch sie selbst bot vielleicht nicht unbedingt den Anblick eines Menschen, der einen triumphalen Sieg errungen hatte – mehr tot als lebendig, eingewickelt wie eine Mumie, dafür aber mit nacktem Hintern.
Sie lächelte schmerzlich, wandte sich wieder der Wüste zu und versuchte die Richtung zu finden, aus der sie gekommen waren. Sie befanden sich nicht im eigentlichen Turm, sondern in dem kleineren, fast völlig zerstörten Gebäude daneben, über dessen Sinn sie sich seit zehn Jahren vergeblich den Kopf zerbrochen hatte, und wenn sie das Bild noch richtig im Kopf hatte, das sich ihr von der Düne aus geboten hatte, mußte ihr letztes Nachtlager in ziemlich gerader Linie vor ihr liegen. Aber sie sah nichts mehr, obwohl der Blick hier in der Wüste sehr viel weiter reichte als anderswo. Nicht einmal die Skelette der beiden Hornbestien waren noch zu erkennen.
»Wir musssten esss tun«, fuhr Hrohn fort. »Dherrr SSSturmm Wwar...«
»Es ist gut, Hrhon«, unterbrach ihn Tally. »Es war richtig. Schließlich wollte ich ja hierher, oder?« Sie wandte sich wieder zu dem Waga um und lächelte, wurde aber sofort wieder ernst. Hrhon stand in sonderbar geduckter Haltung da, einen halben Schritt von ihr zurückgewichen und die Arme ein ganz kleines bißchen angewinkelt, und auch Essk hatte sich von ihr abgewandt und betrachtete mit großem Interesse ein nicht vorhandenes Bild auf der schwarzen Wand vor sich.
Und plötzlich begriff Tally, daß die beiden Wagas Angst hatten.
Aber natürlich, dachte sie. Ihr Vorhaben – nein, ihr