Selbst jetzt spürte sie noch etwas von dem damaligen Schrecken, wenn sie an den Anblick zurückdachte. Das Tier mußte versucht haben, sich einzugraben, aber es hatte es nicht mehr ganz geschafft: die Teile seines Körpers, die dem Sturm preisgegeben gewesen waren, waren sauber bis auf die Knochen abgeschliffen worden; Fleisch, Muskeln und Panzerplatten so sauber weggeschmirgelt und poliert wie die Knochen einer Eidechse, die einer halbverhungerten Ameisenarmee über den Weg gelaufen war.
Sie lief zu ihrem Pferd, sprang in den Sattel und blickte wieder nach Westen. Diesmal war sie sicher, daß sich die ungesunde gelbliche Färbung des Himmels vertieft hatte. Und die Luft roch jetzt eindeutig brandig.
»Beeilt euch!« rief sie ungeduldig. Sie zwang ihr Pferd herum, ritt die wenigen Schritte zu den beiden Hornbestien hinüber und sah nervös zu, wie Essk und Hrhon ungeschickt in die Sättel kletterten und sich festzuschnallen begannen.
Tally wartete nicht, bis die beiden Wagas mit ihren Vorbereitungen zu Ende waren. Sie sah noch einmal nach Westen, beugte sich tief über den Hals ihres Pferdes und gab ihm die Sporen.
Das Tier schrie erschrocken auf und sprengte los, als die gezahnten Bronzeräder in seine Flanken bissen. Hinter ihr stieß Hrhons Hornbestie einen schrillen, trompetenden Angstschrei aus, der die Wüste zum Erzittern zu bringen schien. Tally sah nicht einmal zurück. Die beiden Wagas wußten, wo ihr Ziel lag, und sie kannten den Weg beinahe ebensogut wie Tally. Und die Hornbestien vermochten, wenn sie sich nur einmal in Bewegung gesetzt hatten, weitaus schneller zu laufen als ein Pferd. Der Wind nahm zu, und der Sand schlug jetzt mit schmerzhafter Wucht auf ihren Körper ein; ein Bombardement von Tausenden und Abertausenden winziger heißer Nadeln. Von weit her – aber näher kommend – war ein dumpfes, vibrierendes Grollen zu hören, und der Himmel begann sich jetzt auch direkt über ihr mit erstem fahlem Gelb zu überziehen. Das Pferd griff plötzlich von selbst schneller aus, und die braunen Sanddünen der Wüste flogen nur so an ihnen vorüber.
Es war ein Wettlauf mit dem Tod. Es wurde heiß, unerträglich heiß. Der Boden, über den das Pferd jagte, schien zu brennen. Der Sturm hämmerte mit unsichtbaren Fäusten auf sie ein. Ihre Haut war längst wundgescheuert und blutig, wo sie nicht von Kleidern oder der Sandmaske geschützt war, und ohne die Maske wäre sie längst blind gewesen. Ihr Pferd schrie vor Schmerz und Angst und versuchte noch schneller zu laufen. Tally duckte sich noch tiefer über seinen Hals und blickte sich um. Der Himmel loderte in grellem Schwefelgelb, und irgendwo hinter ihnen, entsetzlich
Tally sah das Unglück kommen, aber sie war unfähig, etwas zu tun.
Eines der Tiere warf in panischer Angst den Kopf zurück und schrie. Sein Brüllen war selbst unter dem Toben des Sturmes noch deutlich zu vernehmen. Seine drei Beinpaare gerieten aus dem Takt, und der ungeheure Schwung, mit dem der zehn Tonnen schwere Koloß vorwärtspreschte, tat ein übriges. Das Tier verlor das Gleichgewicht, knickte mit den vorderen Beinpaaren ein und grub den gewaltigen Schädel in den Sand. Hrhon wurde durch die ungeheure Wucht des Aufpralles nach vorne geschleudert; seine Leibriemen rissen. Er brüllte vor Angst, flog in hohem Bogen über den Schädel der Hornbestie hinweg und landete fast zehn Meter weiter im Sand. Das Horntier stieß einen hohen, gequälten Schrei aus, als sein Genick unter dem Gewicht des nachschiebenden Körpers brach. Es überschlug sich, bäumte sich – längst tot und nur noch ein Bündel aus Muskeln und Nerven, das sinnlos gewordenen Reflexen gehorchte – noch einmal auf und sank dann zu Boden. Und in diesem Moment tat Tally etwas, was sie wohl selbst am meisten überraschte: sie riß ihr Pferd herum, drängte das Tier gegen das Kreischen und Toben des Sturmes zurück und jagte auf Hrhon zu.
Der Waga stemmte sich schwerfällig hoch, als sie neben ihm anlangte. Der Sturz konnte ihn kaum ernsthaft verletzt haben, aber er wirkte benommen. Trotz seiner gewaltigen Körperkraft konnte er sich kaum gegen den Sturm halten. Er wankte und griff blind mit den Händen ins Leere, um irgendwo Halt zu finden.
Tally sah sich gehetzt um. Die zweite Hornbestie stürmte keine dreißig Meter hinter ihr heran, eine lebende Lawine, wahnsinnig vor Angst, die alles niederwalzen würde, was sich ihr in den Weg stellte. Essk schlug verzweifelt mit den Fäusten auf die empfindliche Stelle zwischen den Hörnern ein und brüllte aus Leibeskräften. Genausogut hätte sie versuchen können, den Sturm mit bloßen Händen aufzuhalten.