Der Anblick brachte Tally für kurze Zeit in die Wirklichkeit zurück. Sie wurde sich wieder völlig der Tatsache bewußt, wo sie war: an einem der unwirtlichsten und auch wohl tödlichsten Flecken der Welt, einem Ort, der im Grunde aus nichts anderem als Leere bestand und gerade deshalb so gefährlich war. Abgesehen von einer kleinen Armee gab es nicht viel, was sie fürchten mußte, solange sie sich in Begleitung der beiden Waga und ihrer felsenfressenden Reittiere befand. Aber Durst und Hitze und Desorientierung waren etwas, wogegen reine Körperkraft herzlich wenig nutzte. Für einen ganz kurzen Moment wurde sie sich ihrer Lage wirklich bewußt, und für diesen Moment hatte sie Angst. Aber nicht für lange. Jetzt, als sie ihrem Körper gestattete zu ruhen, griff die Müdigkeit auch nach ihrem Geist, aber es war eine angenehme, sehr wohltuende Müdigkeit, und sie wehrte sich nicht dagegen.
Wieder sah sie nach Norden, und wieder entstand vor ihrem inneren Auge das Bild des Turmes, wenn es auch von der Erinnerung verfälscht war, und Furcht und Haß ihn für sie größer und finsterer erscheinen ließen, als er war. Was sie allerdings durchaus realistisch sah – soweit man im Zusammenhang mit einem Gebilde wie dem Turm das Wort
Nein – sie konnte sich kein weiteres Versagen mehr leisten. Diesmal mußte es gelingen, wenn nicht alles, was sie in den letzten zehn Jahren erreicht hatte, umsonst gewesen sein sollte. Es war ihre größte Niederlage gewesen, aber sie spürte, daß es in ihrer Macht lag, sie in ihren größten Sieg umzuwandeln. Der Schlüssel dazu lag vor ihr, zum Greifen nahe. Sie hatte es bisher nur einfach nicht geschafft, ihn aufzuheben.
Diesmal
Sie aß, trank noch mehr von dem schlecht schmeckenden Wasser, das noch aus der versandeten Quelle stammte, an der sie vor zwei Tagen vorbeigekommen waren, und befestigte die geleerte Wasserflasche sorgfältig wieder an ihrem Sattelzeug. Ihre Wasservorräte waren so gut wie erschöpft, aber beim Turm gab es eine Quelle, und das Wenige, was sie noch hatten, würde für den Rest des Weges reichen.
Eine Zeitlang blieb sie noch am Feuer sitzen und starrte in die lodernden Flammen. Dann kroch sie in ihr Zelt und streckte sich auf dem Lager aus Fellen und Decken aus, das die Waga für sie vorbereitet hatten. Aber sie lag noch lange mit offenen Augen in der Dunkelheit, ehe sie endlich Schlaf fand...
2
Sie hatte einen Alptraum, ohne sich hinterher daran zu erinnern,
Draußen wurden stampfende Schritte laut. Die Plane vor dem Eingang wurde mit einem Ruck zuerst zurück und dann auseinander gerissen, und Essks ausdrucksloses Schildkrötengesicht erschien zwischen den Zeltplanen.
»Isss habe Eusss sssreien gehört, Herrin«, sagte sie zischelnd. »Wasss issst gesssehen?«
Tally starrte die Waga eine halbe Sekunde lang verwirrt an. Dann schüttelte sie hastig den Kopf. »Es ist nichts«, sagte sie unwirsch. »Ein... böser Traum, mehr nicht. Du kannst wieder gehen.«