Ihr Zorn schien Jandhi zu amüsieren, denn ihr Lächeln wurde noch breiter. »Du versteht nicht«, sagte sie. »Aber wie könntest du auch? Es hat nichts mit Zauberei oder gar schwarzer Magie zu tun, weißt du?« Sie hob den Kasten und deutete gleichzeitig mit einer Kopfbewegung auf die gigantische geflügelte Kreatur, die wie ein lebender Berg über ihnen in den Himmel ragte. »Wir pflanzen Sensoren in ihre Gehirne, wenn sie noch sehr jung sind. Das ist völlig schmerzlos und ungefährlich. Täten wir es nicht, wären sie vermutlich längst ausgestorben. Oder niemals geboren worden – je nach dem. Aber jetzt komm.«
Tallys Blick irrte unsicher zwischen ihr und dem Drachen hin und her. Sie verstand Jandhis Worte nicht, und noch viel weniger verstand sie,
Und Jandhi schien ihre Angst zu spüren, denn sie forderte sie nicht noch einmal auf, in den Sattel zu steigen, sondern trat mit einem schnellen Schritt auf einen der hornigen Stachel, die aus dem Schädel des Drachen herausragten, zog sich mit einer geübten Bewegung in den Sattel hinauf und machte erst dann eine gleichermaßen auffordernde wie befehlende Geste. Tally gehorchte. Langsamer als Jandhi und mit vor Aufregung und Furcht hämmerndem Herzen näherte sie sich dem Drachen, blieb noch einmal stehen und kletterte schließlich zu Jandhi hinauf.
Es war ein entsetzliches Gefühl: es war im Grunde nicht schwerer, als einen Baum zu erklimmen, aber der Gedanke, daß sie auf einer der Bestien saß, die ihre Familie – ihr Leben – verbrannt hatten, vor einer der Frauen, die den Befehl dazu gegeben hatten, ja, vielleicht dabei gewesen waren, brachte sie schier um den Verstand. Alles in ihr schrie danach, sich einfach herumzudrehen und Jandhi zu töten, und wenn es das Letzte wäre, was sie in ihrem Leben tat. Aber sie durfte es nicht. Nicht, wenn nicht alles umsonst gewesen sein sollte. Nicht
»Halt dich gut fest!« befahl Jandhi.
Tally hatte kaum Zeit, ihrem Befehl zu folgen und sich am Rand des Sattels festzuklammern.
Der monströse Schlangenhals unter ihr bewegte sich in die Höhe; beinahe gleichzeitig breitete der Gigant die Schwingen aus und stieß sich mit einem ungeheuer kraftvollen Satz ab.
Tally hatte niemals einen Drachen starten sehen, aber allein ihre ungeheure Größe hatte sie ganz instinktiv annehmen lassen, daß es sich um einen schwerfälligen Vorgang handeln mußte – ein albernes Flattern wie das eines Kormorans vielleicht. Aber der Drache sprang einfach in die Höhe, schlug nur ein einziges Mal mit den Flügeln und schoß in den Himmel wie ein Pfeil.
Tally begriff plötzlich, wieso Jandhi so wenig Angst davor gehabt hatte, von ihr angegriffen und vielleicht in die Tiefe gestoßen zu werden – selbst wenn sie es gewollt hätte, hätte sie kaum Gelegenheit dazu gefunden; denn sie brauchte all ihre Kraft und Aufmerksamkeit, sich am Sattel festzuhalten und nicht selbst abzustürzen. Die Wüste, die Kriegerinnen und die beiden anderen Drachen fielen unter ihr in die Tiefe, als hätte sich unter dem Schlund ein weiterer, noch gewaltigerer Abgrund aufgetan, um die Welt zu verschlingen. Eisiger Wind peitschte ihr Haar, schnitt wie mit Messern in ihr Gesicht und trieb ihr die Tränen in die Augen, während der Drache in die Höhe schoß, wie ein übergroßer Adler auf dem Wind reitend und nur sehr selten mit den Flügeln schlagend. Die schwarze Flanke des Drachenfelsens glitt vor ihnen in die Tiefe, kippte zur Seite und nach rechts und verschwand für einen Moment aus ihrem Blickfeld, als Jandhi den Drachen in einem weit geschwungenen Bogen herumzwang.
Dann lag der Berg unter ihnen. Tally konnte nicht viel erkennen, denn ihre Augen waren noch immer voller Tränen. Trotzdem war sie überrascht – sie hatte ein Plateau erwartet, vielleicht mit einer Art Festung, einer monströsen Stadt der Drachen; aber unter ihr lag nichts als eine gigantische, schwarze Nadel aus glänzender Lava, scharf wie ein Speer, der die Wolken aufzuschlitzen trachtete.