Zwölf Stunden... dachte sie. Eine erbärmlich kurze Zeit – und doch genug, für das, was sie tun mußte. Sie fühlte sich sonderbar. Sie war noch nicht alt genug, um sich wirklich ernsthaft mit dem Gedanken an den Tod auseinandergesetzt zu haben, aber natürlich
Einen Moment lang lauschte sie in sich hinein, aber da war nichts: Ihr Herz schlug sehr schnell und gleichmäßig, unter ihrem rechten Knie pochte ein leichter Schmerz, wo sie im Dunkeln gegen einen Felsen geprallt war, und ihre Rippen waren taub, wo sie der Kolbenstoß getroffen hatte. Aber wo die Angst in ihrem Leib wühlen sollte, war nichts als eine tiefe, sonderbar wohltuende Leere. Vielleicht war dies schon ein Teil des Schutzes, von dem Weller gesprochen hatte.
Ein gigantischer Schatten legte sich über die Wüste und ließ Tally aus ihren Gedanken auffahren. Sie sah nach oben und erblickte einen weiteren Drachen, ein besonders großes, nachtschwarzes Tier, das in steilem Winkel aus dem Himmel geschossen kam und seinen Sturz erst dicht über dem Boden abfing. In seinem Nacken saß eine einzelne Reiterin, gekleidet in das allgegenwärtige Schwarz der Töchter des Drachen, aber ohne Helm, so daß ihr Haar frei im Wind flatterte. Der Sturmwind der Drachenschwingen peitschte die Luft, während das Tier zwei-, drei-, viermal über Tally und den anderen kreiste und schließlich zur Landung ansetzte.
Trotz des Ernstes ihrer Lage konnte Tally nicht anders, als die Eleganz der riesigen fliegenden Kreatur zu bewundern, als Jandhi landete. Der Drache mußte an die fünfzig Meter lang sein, und Tally schätzte seine Spannweite auf das Doppelte. Sein Gewicht mußte das von zehn Hornbestien gleichzeitig betragen. Und trotzdem bewegte er sich elegant und schwerelos wie ein großer, nachtschwarzer Schmetterling. Der einzige Laut, der zu hören war, war das Heulen der Luft, die seine Schwingen peitschten.
Und ebenso elegant, wie er gelandet war, senkte der Drache seinen riesigen Schlangenhals, bis der dreieckige Schädel den Boden berührte und seine Reiterin mühelos absteigen konnte.
Tally blickte ihr ruhig entgegen. Jandhi ging sehr schnell, aber ohne Hast, auf sie zu, blieb einen Moment neben Hrhon stehen und blickte ihn an und kam dann näher. Eine ihrer Kriegerinnen trat auf sie zu; Jandhi scheuchte sie mit einer unwilligen Geste zur Seite. Für einen Moment wurde es sehr still, während die beiden ungleichen Frauen sich anblickten. Jandhis Gesicht war wie Stein. Auf ihren ebenmäßigen Zügen war nicht das geringste Gefühl zu erkennen. Aber Tally spürte die Erregung, die hinter der Maske aus Unnahbarkeit und Ruhe tobte. Und Jandhi umgekehrt schien die unnatürliche Ruhe zu fühlen, die von Tally Besitz ergriffen hatte, denn nach einer Weile trat ein Ausdruck von leiser Überraschung in ihre Augen. Trotzdem dauerte es sehr lange, bis sie das Schweigen brach, das sich zwischen ihnen ausgebreitet hatte.
»Du wärst besser mit mir gekommen, damals in Schelfheim«, sagte sie. »Eine Menge meiner Schwestern wären noch am Leben. Und deine beiden Freunde auch.« Sie seufzte, maß Tally mit einem langen, sehr nachdenklichen Blick und schüttelte schließlich den Kopf, als könne sie noch immer nicht glauben, was sie sah. »Du hast wirklich aufgegeben.«
»Wie du siehst.«
»Warum?« Jandhi machte eine fragende Geste. »Ich meine – warum jetzt? Du hast uns länger und gründlicher an der Nase herumgeführt als irgendein anderer vor dir – und jetzt gibst du auf?« Sie schüttelte den Kopf.
»Wenn du irgendeinen Trick vorhast, hast du zu hoch gespielt, Tally.«
»Kein Trick.« Tally zögerte einen Moment; dann hob sie die Hand und deutete auf den Berg hinter sich. »Du hast mich nicht besiegt, Jandhi. Er war es.«
Jandhi blickte sie einen Herzschlag lang verdutzt an. Dann nickte sie. »Hast du gedacht, wir sitzen schutzlos herum und warten darauf, überfallen zu werden?« fragte sie. »Niemand besteigt diesen Berg, der keine Flügel hat.« Sie seufzte. »So viel Tote, Talianna. So viel verschwendete Energie... war es das wert?«
Tally schwieg. Jandhis Frage war nicht von der Art, die eine Antwort erwartete. Und nach einer Weile schüttelte sie auch den Kopf und beantwortete sie selbst: »Nein, das war es nicht. Wärst du doch gleich zu uns gekommen, statt einen Privatkrieg zu beginnen. So viel hätte anders sein können.«
»Ach?« sagte Tally. »Hättet ihr ein paar Städte weniger niedergebrannt?«