»Ich... soll dir folgendes ausrichten: die
»Die Frau und den Waga. Weller interessiert sie nicht.«
»Lächerlich«, sagte Jan. Karan aber schwieg, wie Tally sehr wohl registrierte.
»Sie erzählen es jedem«, fuhr Nors fort. »Und sie sind überall. Ihr müßt vorsichtig sein, wenn ihr weitergeht. Die Stadt ist nicht mehr sicher. Wo du hinblickst, sind Soldaten und Hornköpfe. Im Westen wird gekämpft«, fügte er nach einer sekundenlangen Pause hinzu.
»Gekämpft?« Weller runzelte die Stirn.
»Ein paar der Straßenbanden haben die Garde angegriffen«, bestätigte Nors. »Die Garde hat große Verluste, aber sie rücken weiter vor. Es heißt, der Stadtkommandant hätte sich geweigert, seine Krieger hierher zu schicken, aber Jandhi habe ihn gezwungen.«
»Dann bleibt Karan nur noch ein Weg«, murmelte Karan.
Tally sah ihn aufmerksam an. »Und welcher?«
»Es geht nicht um ihn«, sagte Karan anstelle einer direkten Antwort. »Es geht um seine Freunde, um diese Stadt. Hier im Norden herrschte Frieden, seit langer Zeit.«
»Den Eindruck hatte ich nicht«, sagte Tally säuerlich und hob die Hand zu ihrer schmerzenden Schulter.
»Ein blutiger Frieden vielleicht, mit grausamen Regeln, aber trotzdem Frieden«, beharrte Karan. »Dein Auftauchen hat ihn beendet.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Du ziehst eine Spur von Blut hinter dir her, Tally. Karans Freunde werden sterben, vielleicht wird diese Stadt zerstört. «
»Du übertreibst.«
»Nein.« Weller schüttelte heftig den Kopf. »Hast du vergessen, was ich dir über den Norden der Stadt erzählt habe, Tally? Dies hier ist Schelfheim, aber nicht das Schelfheim der Mächtigen. Hier regieren andere. Der Stadthalter hat hier so wenig zu sagen wie du oder ich. Wenn er seine Krieger hierher schickt, ist das keine normale Patrouille, sondern Krieg. Die Banden werden es nicht hinnehmen. Möglicherweise schlagen sie zurück und legen das schöne piekfeine Schelfheim des Stadthalters ein wenig in Schutt und Asche.«
»Und alles meinetwegen, nicht wahr?« sagte Tally zornig. »Das soll es doch bedeuten, oder?«
»Das soll es«, sagte Karan an Wellers Stelle. »Aber es bedeutet nicht, daß Karan dich verrät. Du warst nur der Auslöser. Gebrochen haben andere die Regeln.«
»Und was wirst du tun?« fragte Tally leise.
»Was die Mächtigen wollen«, antwortete Karan. »Karan wird ihnen sagen, wo du zu finden bist. Aber du wirst nicht mehr da sein.«
Tallys Hand kroch zum Schwert, aber Karan lächelte nur, als er die Bewegung sah. »Nicht, was du denkst, dummes Kind«, sagte er milde. »Karan hat geschworen, es nicht zu tun, doch jetzt bleibt ihm keine Wahl. Er wird dir den Weg zeigen, den du gehen mußt.«
Es dauerte einen Moment, bis Tally begriff. Dann sprang sie vor lauter Erregung auf. »Der Schlund!« keuchte sie.
»Du bringst uns hinunter?«
»Nein«, sagte Karan ruhig. »Aber Karan wird euch zeigen, wie ihr dorthin kommt. Ihr braucht keinen Führer. Sein Geheimnis ist nur, wie es zu tun ist, nicht, es zu tun.«
»Sprich nicht in Rätseln, alter Mann«, sagte Tally drohend.
»Es sind keine Rätsel.« Karan lächelte. »Noch ehe die Nacht zu Ende ist, wirst du wissen, was Karan meint. Er wird euch nicht begleiten, aber er wird dir zeigen, was zu tun ist.« Er seufzte, brach noch ein kleines Stück Brot ab und führte es zum Mund, biß aber nicht hinein.
»Du wirst viel Mut brauchen, Mädchen«, sagte er.
»Den habe ich.«
Aber ganz sicher war sie plötzlich nicht mehr. Ganz und gar nicht.
8
Wieder waren sie unterwegs, nach Norden und damit in gerader Linie zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Nach Tallys Zeitgefühl mußte es Mitternacht sein, aber sicher war sie da nicht: seit sie diese Stadt voller Wahnsinniger betreten hatte, lebte sie nicht mehr nach dem gewohnten Rhythmus. Ihre innere Uhr war ebenso durcheinandergeraten, wie ihre Gefühle es waren. Der Himmel war nicht zu sehen. Es regnete zwar nicht mehr, aber die Wolken waren schwarz und dicht, wie Fäuste, die sich über den Dächern der Stadt ballten und den Mond und die Sterne verbargen. Tally wäre auch nicht erstaunt gewesen, wäre in diesem Moment die Dämmerung hereingebrochen. Trotzdem ihr Zeitgefühl war durcheinander, aber wenn sie noch auf ihre Schätzung vertrauen konnte, so mußte es Mitternacht sein. Eine gute Zeit, zur Hölle zu fahren, dachte sie sarkastisch.
»Wohin gehen wir?« fragte sie.
»Zurück zum Hafen.« Jan antwortete, ohne sie anzusehen. Sein Gesicht war angespannt. Müdigkeit kennzeichnete seine Bewegungen. »Mein Vater besitzt einen Schuppen am mittleren Becken. Dort findet ihr alles, was ihr braucht.«