Ein Diagnostiker gehörte der geistigen Elite des Orbit Hospitals an. Er war eines jener seltenen Wesen, deren Psyche und Verstand als ausreichend stabil erachtet wurde, permanent bis zu zehn Bänder gleichzeitig im Kopf gespeichert zu haben. Ihren mit Daten vollgestopften Hirnen oblag in erster Linie die Aufgabe, medizinische Grundlagenforschung zu leisten und neue Krankheiten bislang unbekannter Lebensformen zu diagnostizieren und zu behandeln.
Mit einem Schulungsband wurden einem aber nicht nur die physiologischen Fakten einer Spezies ins Gehirn eingeimpft, sondern auch die gesamte Persönlichkeit und das komplette Gedächtnis des Wesens, das dieses Wissen einst besessen hatte. Praktisch setzte sich ein Diagnostiker freiwillig einer höchst drastischen Form multipler Schizophrenie aus. Die fremden Persönlichkeiten, die seinen Geist scheinbar mit ihm teilten, konnten durchaus unangenehme und aggressive Wesen mit allen Arten von Reizbarkeit und Phobien sein — schließlich sind Genies, ob auf medizinischem oder irgendeinem anderen Gebiet, nur selten freundliche Leute.
Zwar wurde die eigene Persönlichkeit durch ein Schulungsband niemals vollständig unterdrückt, doch wenn man einem Diagnostiker gegenüber einen Wunsch nichtmedizinischer Natur äußerte, hing seine Reaktion stets von dem Fall oder Forschungsprojekt ab, an dem er gerade arbeitete, und wieviel Konzentration er dafür aufwenden mußte. Darüber hinaus war es auch noch eine Frage des Anstands, zunächst einmal herauszufinden, was für eine Persönlichkeit gerade partiell die Kontrolle über das Gehirn des betreffenden Diagnostikers übernommen hatte, bevor man überhaupt einen Ton sagte. Diagnostiker gehörten nicht gerade zu denjenigen, denen man Anweisungen erteilte. Selbst der Chefpsychologe des Orbit Hospitals, O'Mara, mußte sie mit einem gewissen Grad an Besonnenheit behandeln… „… deshalb können Sie den Diagnostikern leider nicht einfach befehlen, von Bord zu gehen, Captain“, fuhr Murchison fort. „Außerdem werden die Chefärzte, die diese Diagnostiker begleiten, für ihre Anwesenheit hier neben ihrer Neugier sicherlich auch noch vernünftige medizinische Gründe haben.
Des weiteren sollten Sie bedenken, daß die Diagnostiker in den letzten zwei Wochen unsere Körper praktisch Zelle für Zelle durchgecheckt haben.
Wenn wir ihnen nun nahelegen, die Gespräche mit den Besatzungsmitgliedern der Tenelphi über die Geschichte der Raumfahrt einzustellen, weil das reine Zeitverschwendung ist, würden sie uns womöglich noch gründlicher untersuchen, aber…“
„Bloß das nicht!“ unterbrach Fletcher sie hastig und seufzte. „Aber dieser Thornnastor scheint ja ein ziemlich freundliches Wesen zu sein, wenn auch ein wenig groß und tolpatschig, und er ist unser häufigster Besucher.
Könnten Sie ihm nicht vorschlagen, vielleicht nicht ganz so oft und vor allem ohne sein medizinisches Gefolge zu kommen, weil wir dann…?“
Murchison schüttelte entschieden den Kopf. „Thornnastor ist der leitende Diagnostiker der Pathologie und als solcher der Chefdiagnostiker des Orbit Hospitals. Außerdem ist er eine wichtige Nachrichtenquelle, ein Freund und mein Abteilungsleiter. Also, ich freue mich jedenfalls über Thornys Besuche. Sie finden es vielleicht seltsam, daß ein tralthanischer FGLI, ein übergroßer, elefantenartiger, sechsbeiniger warmblütiger Sauerstoffatmer mit vier Greiforganen und schon unanständig vielen Augen Geschmack an einem Gespräch über einen pikanten Klatsch aus der SNLU-Abteilung der Methanstationen findet. Vielleicht wundern Sie sich sogar, wie überhaupt irgend etwas Skandalträchtiges zwischen zwei kristallinen Lebensformen bei minus einhundertfünfzig Grad Celsius vorfallen kann, oder warum deren Freizeitaktivitäten für einen warmblütigen Sauerstoffatmer von solchem Interesse sind. Aber Sie müssen verstehen, Thornys Sympathie für andere ETs und selbst für uns Terrestrier ist einzigartig. Er ist eine der psychisch und physisch stabilsten und ausgewogensten Mehrfachpersönlichkeiten des Hospitals und…“
Fletcher hob beide Hände als Zeichen der Kapitulation und entgegnete: „Und besitzt darüber hinaus auch noch die Fähigkeit, seinem Personal einen — gelinde gesagt — ungewöhnlich hohen Grad an persönlicher Loyalität abzuverlangen. Na gut, Madam, Sie haben mich überzeugt. Was Diagnostiker betrifft, bin ich ab jetzt im Bilde, und ich kann eben nichts dagegen tun, daß diese Leute einfach über mein Schiff herfallen.“
„Leider nicht, Captain“, erwiderte Murchison mitfühlend. „Dagegen könnte nur O'Mara etwas machen. Aber der mag seine Diagnostiker viel zu gern. Einer seiner Lieblingssätze lautet, daß jeder geistig Zurechnungsfähige, der freiwillig Diagnostiker werden will, schon von vornherein verrückt sein muß…“
Während des Gesprächs zwischen Murchison und Fletcher hatte sich die Beleuchtung in der Schiffskantine fast unmerklich verändert. Der Grund dafür war das Aufflackern des Bildschirms, auf dem jetzt die zerfurchten Gesichtszüge des Chefpsychologen zu sehen waren.