Um 16 Uhr trafen die Mannschaften in der ungefähren Mitte des Spielfeldes aufeinander, die restlichen Soldaten ließen sich als lebende Aus-Linien in langen Reihen auf die Wiese nieder. Waffen trug niemand sichtbar, einige Gewehre lehnten gegen Bäume. Die Spieler passten sich den Ball zum Aufwärmen schweigsam zu, die Seitenwahl gewannen die Serben.
Etwas abseits umarmten sich Kiko und Mikimaus. Sie kannten sich aus der Schule, beide waren sie in der achten Klasse zweimal sitzen geblieben, das war ungewöhnlich. Noch ungewöhnlicher war es, dass jemand auch noch zweimal die erste Klasse wiederholen musste, die vierte und die sechste. Einmal, mitten in einer Matheklausur, fragte der Junge mit dem immer offenem Mund, wie man eigentlich lernte. Bei den Mitschülern galt er als stiller, gutmütiger Koloss, der auf die Frage, wann Kolumbus Amerika entdeckt hatte, aus dem Fenster sah und »Kartoffelkäfer« antwortete. Der knapp siebzehnjährige Kiko dagegen zählte zu den besten Fußballtalenten des Landes. Während er von den Vereinen der ersten Liga umworben wurde, schuftete Mikimaus Tag und Nacht auf dem Bauernhof seiner Eltern, und nichts deutete darauf hin, dass bessere Tage und bessere Nächte kommen würden.
Und sie kamen doch – mit dem Krieg. Mikimaus fragte: wo ist der Krieg?, seine Mutter antwortete: Gott sei Dank noch weit weg, er fragte: gut, für wen sind wir?, sein Vater gab zurück: du bist Serbe. Am nächsten Tag stand Mikimaus mit einem Rucksack in der Tür, der auf seinem weiten Rücken wie ein Kosmetiktäschchen aussah. Er sagte zu seinem Vater, zu den zehn Spiegeleiern vor seinem Vater, zur hellblau befliesten Küche, zur gekerbten Tischplatte aus Kirschholz, zum staubigen Hof, zum Mistgestank aus dem Stall, zum Pflug, der ihm den Rücken so endlos mit Muskeln durchzogen hatte, zu den zahllosen Maissäcken, in die er Nacht um Nacht mit voller Wucht trat, aus Wut über den Vater, über Vaters zehn Spiegeleier jeden Morgen, über die Tischplatte, in die er seinen Namen eingeritzt hatte, als er einmal zwei Wochen unter dem Tisch hatte schlafen müssen, über den Hof, wo ihn sein Vater in den Staub warf und mit Füßen nach ihm trat, über den Mist, in dem er sein ganzes Leben watete, über den Pflug, weil er kein Ochse war: Auf Wiedersehen, ich bin jetzt weit weg, ich bin im Krieg.
Mikimaus’ Vater kaute zu Ende, trank seinen Blumenkohlsaft aus und wischte sich mit dem Geschirrtuch über den Mund. Er schob den Stuhl nach hinten, erstarrte aber in der festen Stimme seines Sohnes, der sagte: stehst du auf, machst du einen Schritt, dreh ich dir den Hals um wie einem Huhn, ich bin jetzt weit weg. Fünf Tage wanderte Mikimaus, fragte sich durch, sagte so oft, er sei Serbe, bis man ihm ein Gewehr gab. Kann ich schießen gehen?, wollte er wissen, und lernte, wie man lud und entsicherte. Er wurde auf den Igman geschickt, wo die serbischen Truppen die Belagerung von Sarajevo vorbereiteten. Mikimaus klagte nie. Er fand sie besser als das Zuhause, die abgelegenen Orte, über die seine Kameraden sagten, Gott habe sie längst verlassen und vergessen, und so ein Gott dreht sich nicht noch mal um. Sie sagten: hinter Gottes Füßen.
Der Spitzname machte Mikimaus nichts aus. Ich mag auch die Ente und den Hund, sagte er, Pluto ist halt ein bisschen tollpatschig. In der Schule hatte er noch nicht Mikimaus geheißen, und Kiko nannte ihn heute noch Milan.
Milan, sagte Kiko und legte Mikimaus die Hand auf den Oberarm, ihr habt heute Nacht Ćora weggefickt.
Mikimaus hob die Augenbrauen, zog den Kopf ein und holte Luft für eine Antwort. Sein Gesicht verlor jegliche Symmetrie, blass und mit den Aknenarben sah es aus wie unbehauener Stein. Kiko wartete auf eine Antwort, aber Mikimaus atmete bloß aus und schloss seinen pausenlos geöffneten Mund. Presste die Lippen zusammen wie andere den Blick senken.
Ein schriller Pfiff signalisierte das Ende des Aufwärmens.
Mikimaus nahm Kikos Hand von seinem Arm. Kiko, die haben gesagt: Mikimaus, du spielst wieder hinten.
Dass er der Einzige gewesen war, der in dieser Nacht geschossen hatte, sagte Mikimaus nicht. Aus dem Wald flog ein schwerer Vogel auf, und der große Mann lief zurück in die Abwehr.
Gavro, der serbische Spielmacher, ein schwarzhaariger Lockenkopf mit einem tätowierten Raben an der Schulter, pfiff dem Vogel spitz hinterher. Gavro pfiff nur dann nicht und summte kein Liedchen, wenn er sprach oder aß. Sogar im Schlaf schnarchte er unter seinem Schnurrbart ein klangvolles »An der schönen, blauen Donau«. Der Vogel überflog die Lichtung und segelte im Süden talwärts hinter die Bäume. Gavro schnappte sich den Ball und ging zum Schiri, der wie gebannt auf seine Uhr starrte.
Fick die Sonne, Mann, wartest du auf ein Zeichen Allahs? Ist nicht so, dass wir Zeit haben, Mann!