Gestern wurden wir für Deutschland erlaubt. In einem großen Büro mit hundert Türen warteten wir drei Stunden vor dem Buchstaben K. Die Wartenden sprachen unsere Sprache, die man nicht mehr serbokroatisch nennen soll, drängten sich um den Aschenbecher und hinterließen Matsch auf dem Boden und Sohlenstempel an der Wand. Um uns K’s kümmerte sich Frau Foß. Sie lächelte milde, feine Grübchen, und in den Kragen ihrer rosafarbenen Bluse hatte sich eine rosafarbene Brosche festgebissen. Überall im K-Zimmer grinste eine Maus mit dem Namen Diddl von den Postkarten. Frau Foß war der freundlichste und der geduldigste Mensch auf der Welt, sie grinste wie ihre Maus und schenkte meiner Mutter ein Taschentuch. Wir konnten nicht viel sagen, mussten es aber auch nicht, Frau Foß wusste, was mit uns zu tun sei. Wir bekamen Stempel in unsere Pässe, weil Frau Foß mit uns hier einverstanden war. ß ist jetzt mein Lieblingsbuchstabe und eine sehr schöne Erfindung, weil darin zwei s untergekommen sind. Ich würde gern Alekßandar Krßmanović heißen und sagte zu Frau Foß im Hinausgehen: Aal, aalglatt, Aas, ab, abändern, Abänderung, abarbeiten, Abart, abartig, Abbau, abbauen, abbeißen, abbekommen, abblasen, Danke! Danke wusste ich, obwohl ich noch nicht so weit war mit dem Wörterbuch. Onkel Bora sagt, Frau Foß habe ihn noch nie verarscht.
Asija, wir schlafen alle in diesem kleinen Zimmer und sind alle eine Spur wütender als zu Hause, auch in den Träumen. Manchmal wache ich auf und male Fingerschattenvögel an die Wand, eine Laterne vor dem Fenster sieht streng zu uns hinein, als passte sie auf, und Onkel Bora versprach, die helle Drecksau bald zu fällen. Für Gardinen gibt es keine Geldpriorität, auch nicht für eine Leinwand und Farben für Vater, aber Mutter und er suchen schon eine Arbeit.
Heute Nacht wachte Tante Taifun kurz nach mir auf. Sie ist langsamer geworden, meine schöne schnelle Tante mit dem hellen Haar, die vor Liebe für ihre Tochter Ema Tränen in den Augen trägt und tausend gute Wünsche für jeden übrig hat. Im grellen Laternenlicht zählte ich die Müdigkeiten in ihrem Gesicht, Falten und Schatten. Sie lächelte mich an, flüsterte: Aleks, niemand hat so einen Kopf wie du, meine Sonne, hab nur keine Angst.
Asija, hab nur keine Angst! Ich hätte so gern mehr Erinnerungen an dich, ich hätte gern Erinnerungen an dich von der Länge einer Reise von Essen nach Višegrad und zurück. Zurück würdest du mitkommen.
Wasserhühnchen ist bisher das lustigste deutsche Wort.
Ich grüße dich herzlich,
Alekßandar.
17. Juli 1993
Liebe Asija, von Oma Katarina weiß ich, dass du schon letzten Winter nach Sarajevo geflohen bist. Von ihr habe ich auch diese Adresse. Sie konnte mir nicht sagen, ob du meine ersten beiden Briefe erhalten hast, es käme kaum Post an, Pakete sowieso nicht, aber auch Briefe verschwinden.
DESWEGEN SCHICKE ICH IN DIESEM BRIEF 17 MARK UND 20 PFENNIG. DAS IST ALLES, WAS ICH HABE. LIEBER BRIEFÖFFNER, BEHALTEN SIE DAS GELD, ABER BITTE KLEBEN SIE DAFÜR DEN UMSCHLAG WIEDER ZU UND LASSEN SIE IHN WEITERREISEN! ES SIND NUR WORTE DARIN UND EIN VERMISSEN, UND ES WERDEN KEINE MILITÄRISCHEN GEHEIMNISSE AUSGEPLAUDERT, DENN ICH BIN KLEINER ALS 1,60m UND MIR VERRÄT NIE JEMAND WELCHE. ABER ICH MÖCHTE EINER SEHR WICHTIGEN PERSON SEHR WICHTIGE DINGE SAGEN, VON MIR AUS KÖNNEN SIE SOGAR WEITERLESEN, HAUPTSACHE, SIE WERFEN DEN BRIEF DANACH NICHT WEG! VIELEN DANK!
Liebe Asija, meine Mutter arbeitet in einer Wäscherei und hat jetzt weniger Zeit, um krank zu sein. Sie sagt, in der Höllenhalle ist es so heiß, dass ihr Gehirn kocht. Mutter hat die Fähigkeit verloren, Dinge schön zu sehen. Sie raucht eine Zigarette nach der anderen, sie qualmt wie die Essener Schornsteine. Vater ist im selben Betrieb wie Onkel Bora. Die beiden sind tagelang unterwegs. Sie arbeiten schwarz. Schwarz heißt: die Arbeit macht dir den Rücken kaputt und dich gleichzeitig zum Verbrecher, obwohl du nicht wirklich klaust.
Nena Fatima hält sich am besten. Sie kocht für uns alle und badet lang, und ich sehe ihr keinen Kummer an. Einmal erwischte ich sie beim Pfeifen, was bei dem eigentlich tonlosesten Menschen überhaupt unendlich schön klingt. Sie hat sich mit den Kassiererinnen im Supermarkt angefreundet und bringt ihnen jeden Tag Kaffee an die Kassen. Dafür darf sie Dinge klauen, die weniger als fünf Mark kosten, und die Kassiererinnen tun so, als würden sie es nicht bemerken.
Hinter ihr Geheimnis bin ich noch nicht gekommen, sie schreibt und schreibt, ihr Zettel ist voll gekritzelt bis an den Rand. Wenn meine Eltern über Dinge reden, die wir nicht haben, wie Gesundheit und Geld und unser Haus in Višegrad, muss ich immer aus dem Zimmer, und Nena Fatima steht stramm an der Tür und hält Wache, damit ich nicht lausche. Die Dinge, die ich nicht hören darf, sind die grausamsten.