Um zu zeigen, dass ich den Ernst der Angelegenheit, des Systems, der Titulatur und des Personenkultes begriffen hatte, kam ich am nächsten Tag in meiner viel zu kleinen, aber immer noch, wie ich fand, schmucken, dunkelblauen Pionieruniform zur Schule. Ich setzte mich beim Herrn Fazlagić in die erste Reihe, sozialistisch aufrecht, wie es Opa immer gefordert hatte. Sogar meine Fingernägel hatte ich mir sauber gepult, ich spreizte die Finger vor mir auf dem Tisch, wie es früher Pflicht gewesen war, als es noch den Hygiene-Aufpasser als Klassenfunktionär gegeben hatte. Bei der ersten Frage, die Herr Fazlagić der Klasse stellte, sprang ich auf und rief: betrachten wir nun das Residuum der Arbeitsprodukte. Es ist nichts von ihnen übrig geblieben als dieselbe gespenstische Gegenständlichkeit, eine bloße Gallerte unterschiedsloser menschlicher Arbeit, das heißt der Verausgabung menschlicher Arbeitskraft ohne Rücksicht auf die Form ihrer Verausgabung.
Drei Stunden Nachsitzen. Drei Lehrer passten auf mich auf, ihre grimmigen Mienen hielten Vorträge über den gesellschaftlich-politischen Ideologiewechsel beziehungsweise Umbruch, drohten mir: wirst du nicht vernünftig, bleibst du jeden Tag nach der Schule hier.
Schüler bleiben in der Schule wie Matrosen auf dem Grund der See, sagte ich und malte mir zwei rote Filzstiftstreifen diagonal über die Wangen, nur eins tut mir Leid: dass ich als Schüler sterben werde und nicht als Bergmann.
Es gab daraufhin zwar ein erneutes Wortgewitter, dann aber durfte ich nach Hause, weil auch Lehrer ein Privatleben haben. Ich nahm mir vor, die Bedeutung der Ausdrücke Provokation, familiäre Gehirnwäsche und politischer Ideologiewechsel beziehungsweise Umbruch genauer unter die Lupe zu nehmen. Klar geworden ist mir die Bedeutung von Ironie. Ironie ist eine Frage, auf die man keine Antwort, sondern Ärger bekommt.
Edin dreht sich zu mir und sagt: Jasnas Hemd. Edin, der Chefgenosse der Biologie, erklärt mir, was Jasnas Hemd ausbeult. Freitag, dritte Stunde, Herr Fazlagić löscht so gehetzt die Tafel, dass ihm das Wasser aus dem Schwamm in den Ärmel läuft. Schnell sind Edin und ich uns einig – ausbeulen ist kein gutes Wort für Jasnas Hemd. Ausbeulen ist falsch, weil ausbeulen nach Autotüren klingt, das aber, was unter Jasnas Hemd von einem Tag auf den anderen geschehen war, hatte mit einer Autoreparatur nichts zu tun. Mit verbogenen Achsen hat Jasnas rotes Hemd auch nichts zu tun. Warum Edin und ich uns in ihrer Nähe so benehmen, als sei sie gleichzeitig die wichtigste und die unwichtigste Sache auf der Welt, ist Edin etwas klarer als mir. Brotteig, einen Hund streicheln, einen Radiosender suchen, so sei das Untechnische unter Jasnas Hemd am besten zu bedienen, erklärt mir Edin. Sanft müsse man sein und: präzise. Du musst das Anfassen perfekt beherrschen, sonst rennen die dir weg!, flüstert der Chefgenosse der Biologie und sieht verträumt zu Jasna hinüber. Einmal anfassen, seufzt er, dann kann ich von mir aus auch verrecken.
Das Wort »präzise« habe ich aus Edins Mund noch nie gehört, und als seine Stimme bei »perfekt« etwas lauter wird, schleudert Herr Fazlagić seinen Schlüsselbund mit voller Wucht auf das Lehrerpult. Stille. Schlagartig. Präzise.
Der Schlüssel ist ein Erlebnis. Für Edin, für mich, auch für Jasna. Denn Edin, ich und Jasna haben ja persönlich damit zu tun, dass Herr Fazlagić so gereizt ist. Im Gereiztsein ist der ehemalige Genosse Lehrer sowieso unschlagbar. Mindestens einmal pro Woche prophezeit er mit bebender Stimme: ihr bringt mich noch nach Sokolac! Mit »ihr« sind wir gemeint, die er zum Beispiel bei dem Versuch erwischt, die Tafel anzuzünden, oder wir, die kollektiv den ersten Schulaufsatz des Jahres mit kyrillischen Buchstaben schrieben, obwohl es nach Titos drittem Tod ausdrücklich geheißen hatte: es wird nicht mehr kyrillisch geschrieben. Und auf Sokolac gibt es ein Irrenhaus. Da kommen Adolf Hitlers hin und Leute, die sich für einen Stuhl halten. Auch Herr Fazlagić schafft es dorthin. Und wenn seine Nerven nah am Sokolac sind, haut er gern mit Dingen auf das Pult. Die flache Hand, das Klassenbuch, die Landkarte der Türkei, die Herr Fazlagić seit Neuestem als Vorzeigeland für dies und jenes lobt. Heute ist es sein vierzehn Kilo schwerer Schlüsselbund, mit dem wahrscheinlich ganz Jugoslawien und die halbe Türkei geöffnet werden könnten. In den noch gar nicht verhallten Knall brüllt er: perfekt? Was ist denn so perfekt, Edin, und was willst du anfassen ? Deine Noten jedenfalls sind genau das Gegenteil von perfekt und anfassen solltest du mal deine Bücher!
Der Lärm und das Geschrei erschrecken Edin; er springt vom Stuhl, dreht eine Pirouette, streckt die Brust vor, breitet die Arme aus und ruft: Ich will nichts anfassen! Und mit »perfekt« war unser Umzug gemeint, meine Mutter und ich ziehen weg. Aleksandar will helfen, da habe ich perfekt gesagt …