Jetzt war das schon ein Spiel. Absichtlich versuchte ich mich lässig zu benehmen, ganz gewöhnlich, als hätten wir uns gestern getrennt, nein, als ob wir uns überhaupt niemals getrennt hätten. Sie stand auf und schlug mit der bekannten leichten, aber kräftigen Bewegung auf den Rock, um ihn zu glätten. Meine Worte beschäftigten sie, wenn sie auch nichts sagte. Sie erfaßte die Umgebung erstmals mit sachlichem, suchendem Blick und wandte sich merklich verwundert wieder zu mir.
— Ich weiß nicht… — sagte sie hilflos. — Wohl im Schrank.? fügte sie hinzu und öffnete die Tür einen Spalt weit.
— Nein, dort sind nur Overalls — entgegnete ich. Ich fand neben dem Waschbecken einen Elektroapparat und begann mich zu rasieren. Dem Mädchen kehrte ich dabei lieber nicht den Rücken, wer immer sie sein mochte.
Sie ging in der Kabine umher, guckte in alle Winkel, sah zum Fenster hinaus, näherte sich endlich mir und sagte:
— Kris, ich habe so ein Gefühl, als wäre etwas geschehen?
Sie verstummte. Ich wartete, den ausgeschalteten Apparat in den Händen. -Als hätte ich etwas vergessen… als hätte ich viel vergessen. Ich weiß… ich erinnere mich nur an dich… und… und an nichts sonst. Ich hörte das an und suchte das eigene Gesicht zu beherrschen. -Warich… krank?
— Hm… man kann das so nennen. Ja, eine Zeitlang warst du ein wenig krank.
— Aha. Das kommt wohl daher.
Schon war sie aufgeheitert. Ich kann nicht ausdrücken, was ich erlebte. Wenn sie schwieg, ging, sich setzte, lächelte, dann war die Gewißheit, ich hätte Harey vor mir, stärker als meine würgende Angst; dann wieder, wie eben in diesem Augenblick, schien es mir, das sei eine vereinfachte Harey, eingeengt auf ein paar charakteristische Äußerungen, Gesten, Bewegungen. Sie kam mir ganz nahe, stemmte die lockeren Fäuste auf meine Brust, dicht unter dem Hals, und fragte:
— Wie steht es zwischen uns? Gut oder schlecht?
— Bestens — entgegnete ich. Harey lächelte leicht.
— Wenn du so redest, steht es eher schlecht.
— Aber wieso denn, Harey, Liebling, ich muß jetzt gehen sagte ich rasch. — Du wartest auf mich, gut? Oder vielleicht… bist du hungrig? — setzte ich hinzu, denn selbst verspürte ich mit einemmal wachsenden Hunger.
— Hungrig? Nein.
Sie schüttelte den Kopf, daß das Haar wogte.
— Ich soll auf dich warten? Lang?
— Eine Stunde — begann ich, aber sie unterbrach mich:
— Ich gehe mit dir.
— Du kannst nicht mitgehen, ich muß ja arbeiten.
— Ich gehe mit dir.
Das war eine völlig andere Harey: die andere hatte sich nicht aufgedrängt. Niemals.
— Liebes Kind, das ist unmöglich…
Sie sah zu mir auf, faßte mich plötzlich bei der Hand. Ich strich mit der Handfläche Hareys Unterarm hinauf, ihr Arm war warm und mollig, ich wollte gar nicht, aber das wurde fast eine Liebkosung. Mein Körper bekannte sich zu Harey, wollte sie, zog mich zu ihr hin, jenseits des Verstandes, jenseits der Argumente und der Angst.
Bemüht, um jeden Preis Ruhe zu bewahren, wiederholte ich:
— Harey, das ist unmöglich. Du mußt hierbleiben.
— Nein.
Und wie das klang!
— Warum nicht?… ich weiß nicht.
Sie schaute umher und hob wieder den Blick zu mir auf.
— Ich kann nicht… — sagte sie ganz leise.
— Aber warum!?
Ich weiß nicht Ich kann nicht Mir scheint mir scheint…
Sichtlich suchte sie nach einer Antwort in ihrem Inneren, und als sie eine gefunden hatte, war das eine Neuentdeckung für sie.
— Es scheint, daß ich dich fortwährend… sehen muß.
Der sachliche Tonfall dieser Worte schloß die Deutung als Gefühlsbekenntnis aus; das war etwas völlig anderes. So empfand ich, und der Griff, mit dem ich Harey umschlungen hielt, veränderte sich plötzlich, obwohl sich nach außen hin nichts veränderte: sie stand, ich umarmte sie; ihr in die Augen schauend, begann ich ihr die Arme zurückzubiegen, und diese Bewegung, anfangs nicht völlig entschieden, führte schon zu etwas, fand ihr Ziel. Mein Blick suchte schon nach etwas, womit ich Harey fesseln könnte.
Ihre zurückgedrehten Ellbogen klopften leicht aneinander und spannten sich zugleich mit solcher Kraft, daß mein Zugriff umsonst war. Ich kämpfte vielleicht eine Sekunde lang. So zurückgebogen wie Harey und mit den Fußspitzen kaum den Boden berührend, hätte sich sogar ein Athlet nicht befreien können, sie aber — mit einem Gesicht, das an alledem keinen Anteil nahm, mit schwachem, unsicherem Lächeln —, sprengte meinen Griff, richtete sich auf und ließ die Arme sinken.
Hareys Augen beobachteten mich mit demselben ruhigen Interesse wie gleich zu Beginn, als ich erwacht war, sie schien sich nicht klar über meine verzweifelte Anstrengung von vorhin, die ein Anfall von Angst mir diktiert hatte. Harey stand jetzt untätig da und wartete anscheinend auf etwas, zugleich teilnahmslos, gesammelt und eine Spur verwundert über das alles.