So
hörte allmählich das, worauf sie wartete, zu existieren auf. Zuerst war es vor
ihr gewesen, jetzt lag es hinter ihr, und sie hatte nicht gespürt, wann es
vorbeiging, den Augenblick der Erfüllung. War Alexandra schon in Frankreich
angekommen? Die Ostrakowa hielt dies langsam für möglich. Mit einem für sie
neuen und untröstlichen Gefühl der Enttäuschung musterte sie die Gesichter der
jungen Mädchen auf der Straße und fragte sich, wie Alexandra wohl aussehen
möge. Wenn sie nach Hause kam, fiel ihr Blick automatisch auf den
Dielenteppich, in der Hoffnung, eine handgeschriebene Nachricht oder einen
Wir
sind kein Postamt, lautete der Bescheid. Die plötzliche Frostigkeit
erschreckte die Ostrakowa, sie ging nicht mehr hin. Darauf machte sie sich
wieder Gedanken um die paar verwischten Fotos, die alle gleich waren, und die
man ihr zum Anheften an die Formulare gegeben hatte. Diese Fotos waren alles,
was sie je zu Gesicht gekriegt hatte. Sie wünschte, sie hätte Kopien davon
machen lassen, doch das war ihr gar nicht in den Sinn gekommen. Törichterweise
hatte sie angenommen, sie werde bald das Original kennenlernen. Sie hatte die
Fotos nicht länger als eine Stunde in Händen gehabt! Sie war damit straks von
der Botschaft zum Ministerium geeilt, und als sie von dort wegging, hatten
die Fotos bereits ihren bürokratischen Dienstweg angetreten. Aber sie hatte
die Bilder genau betrachtet! Mein Gott, und wie genau, jedes einzelne, obwohl
sie wirklich alle gleich waren! In der Metro, in den Vorzimmern des
Ministeriums, sogar unterwegs auf der Straße hatte sie auf dieses leblose
Konterfei ihres Kindes gestarrt und mit aller Macht versucht, in den ausdruckslosen
grauen Schatten irgendeinen Hinweis auf den geliebten Mann zu finden.
Vergeblich. Bis jetzt hatte sie sich, wenn sie überhaupt daran zu denken wagte,
vorgestellt, die Heranwachsende trüge Glikmans Züge, so klar, wie das
neugeborene Kind sie getragen hatte. Es war doch ganz und gar unmöglich, daß
ein so kraftvoller Mann wie Glikman in Alexandra nicht für immer weiterleben
sollte. Doch die Ostrakowa sah nichts
»Wenn sie eine Leiche fotografiert hätten, um zu diesem Bild zu kommen«, dachte die Ostrakowa laut in ihrer Wohnung, »dann würde mich das nicht wundern.« Und mit dieser unverblümten Feststellung gab sie ihrem wachsenden inneren Zweifel zum erstenmal äußeren Ausdruck.