»Zweitens, Sie haben sich ebenfalls verpflichtet, Informationen über Umtriebe und Mitglieder revanchistischer sowjetfeindlicher Emigrantengruppen zu sammeln. Sie haben zwei völlig wertlose Berichte geliefert, und dann nichts mehr. Warum?« »Mein Mann verachtete derartige Gruppen und hatte den Kontakt mit ihnen abgebrochen.«
»Sie hätten auch ohne ihn in diesen Gruppen verkehren können. Sie haben sich schriftlich verpflichtet und die Verpflichtung nicht eingehalten. Ja oder nein?«
»Ja.«
»Und dafür lassen Sie Ihr Kind in Rußland zurück? Bei einem Juden? Um sich einem Volksfeind und Landesverräter zu widmen? Dafür vernachlässigen Sie Ihre Pflicht? Überschreiten Sie die genehmigte Frist, bleiben Sie in Frankreich?«
»Mein Mann lag im Sterben. Er brauchte mich.«
»Und das Kind Alexandra? Es brauchte Sie nicht? Ist ein sterbender Mann wichtiger als ein lebendes Kind? Ein Verräter? Ein Verschwörer gegen das Volk?«
Die Ostrakowa ließ ihr Gelenk los, griff entschlossen nach dem Tee und verfolgte das Glas mit der obenauf schwimmenden Zitronenscheibe auf dem Weg zu ihrem Mund. Über das Glas hinweg sah sie einen schmierigen Mosaikboden, und jenseits davon das geliebte, grimmig-freundliche Gesicht Glikmans, das sich über sie neigte, sie aufforderte, zu unterzeichnen, wegzugehen, alles zu schwören, was »sie« verlangten. Die Freiheit für einen ist mehr als die Sklaverei für drei, hatte er geflüstert; ein Kind von Eltern wie wir hat keine Chance in Rußland, ob du nun bleibst oder gehst; geh, und wir werden versuchen, nachzukommen; unterschreibe alles, reise ab und lebe für uns alle; wenn du mich liebst, dann geh . . .
»Damals waren die Zeiten immer noch hart«, sagte sie schließlich zu dem Fremden, als beschwöre sie Erinnerungen herauf. »Sie sind zu jung. Die Zeiten waren hart, selbst nach Stalins Tod: immer noch hart.«
»Schreibt der kriminelle Glikman weiterhin an Sie?« fragte der Fremde in überlegenem und wissendem Ton.
»Er hat nie geschrieben«, log sie. »Wie konnte er schreiben, als Dissident unter Hausarrest? Die Entscheidung, in Frankreich zu bleiben, habe ich allein getroffen.«
Schwärz dich an, dachte sie; tu alles, um die zu schonen, die in »ihrer« Gewalt sind.
»Ich habe von Glikman nichts gehört, seit ich vor mehr als zwanzig Jahren nach Frankreich kam«, fügte sie, wieder Mut fassend, hinzu. »Auf indirektem Weg habe ich erfahren, daß er über mein antisowjetisches Verhalten erzürnt war. Er wollte nichts mehr mit mir zu tun haben. Im Grunde wollte er schon damals, als ich ihn verließ, wieder einschwenken.«
»Hat er nie wegen Ihres gemeinsamen Kindes geschrieben?«
»Er hat weder geschrieben, noch Botschaften übermitteln lassen. Wie schon gesagt.«
»Wo ist Ihre Tochter jetzt?«
»Weiß ich nicht.«
»Haben Sie keine Nachricht von ihr bekommen?«
»Natürlich nicht. Ich habe nur gehört, sie sei in ein staatliches Waisenhaus gekommen und habe einen anderen Namen erhalten. Vermutlich weiß sie nichts von meiner Existenz.«
Der Fremde aß wieder mit einer Hand, während er in der anderen das Notizbuch hielt. Er schaufelte ein, mampfte ein bißchen und spülte dann das Essen mit dem Bier hinunter, ohne sein überlegenes Lächeln zu verlieren.
»Und jetzt ist auch der kriminelle Glikman tot«, gab der Fremde schließlich sein kleines Geheimnis preis. Wobei er weiteraß. Plötzlich wünschte sich die Ostrakowa, die zwanzig Jahre möchten zweihundert sein. Sie wünschte sich, Glikmans Gesicht hätte nie auf sie herabgesehen, sie hätte ihn nie geliebt, nie für ihn gesorgt, nie Tag um Tag für ihn gekocht oder sich mit ihm betrunken, in seinem Einzimmer-Exil, wo sie von der Mildtätigkeit ihrer Freunde lebten, ohne das Recht auf Arbeit, ohne das Recht auf irgendetwas außer Musik hören und einander lieben, sich betrinken, in den Wäldern umherschweifen und sich von den Nachbarn die kalte Schulter zeigen lassen.
»Wenn sie mich das nächste Mal einsperren - oder dich -, dann werden sie uns das Kind ohnehin wegnehmen. Alexandra ist für uns so und so verloren«, hatte Glikman gesagt. »Aber du kannst dich retten.«
»Ich werde mich entschließen, wenn ich dort bin«, hatte sie geantwortet.
»Entschließe dich jetzt.«
»Wenn ich dort bin.«
Der Fremde schob den leeren Teller beiseite und nahm das elegante französische Notizbuch wieder in beide Hände. Er blätterte um, als schlage er ein neues Kapitel auf.
»Was nun Ihre kriminelle Tochter Alexandra betrifft«, verkündete er mit noch immer vollem Mund.