Während der nächsten zwei Wochen nach Absendung des Schreibens ereignete sich nichts, und sie war über dieses Schweigen merkwürdig erleichtert, auf eine Art, wie dies nur Frauen möglich ist. Dem Sturm war die Ruhe gefolgt, sie hatte das Wenige getan, was sie tun konnte - hatte ihre Schwäche und ihren Verrat gestanden und ihre einzige große Sünde -, der Rest war in Gottes und des Generals Hand. Ein Streik der französischen Post erschütterte sie nicht. Sie sah darin eher ein weiteres Hindernis, das die Mächte, die ihr Schicksal gestalteten, zu überwinden hätten, wenn ihr Wille dazu stark genug war. Sie ging zufrieden zur Arbeit, und ihr Rücken hörte auf, ihr Beschwerden zu machen, was sie als Omen ansah. Sie nahm die Dinge sogar wieder philosophisch. Es ist so oder so, sagte sie sich; entweder Alexandra war im Westen und besser daran - wenn es sich tatsächlich um Alexandra handelte -, oder Alexandra war, wo sie immer gewesen war, und nicht schlechter daran. Doch allmählich meldete sich ein anderer Teil ihrer selbst, der den falschen Optimismus durchschaute. Es gab eine dritte Möglichkeit, und das war die schlimmste und ihrer Ansicht nach die bei weitem wahrscheinlichste: nämlich, daß Alexandra zu einem dunklen und vielleicht üblen Zweck eingespannt wurde; daß »sie« ihr Zwang antaten, wie »sie« ihr selber Zwang angetan hatten, die Menschlichkeit und den guten Willen mißbrauchten, die Glikman seiner Tochter mitgegeben hatte. In der vierzehnten Nacht erlitt die Ostrakowa einen heftigen Weinkrampf, mit tränenüberströmtem Gesicht wanderte sie quer durch Paris auf der Suche nach einer Kirche, irgendeiner, sofern sie nur offen war, bis sie zur Alexander Newsky Kathedrale kam. Sie war offen. Kniend betete sie lange Stunden zum heiligen Josef, der ja schließlich auch ein Vater und Beschützer war und zudem Glikmans Namenspatron, wenn Glikman sich auch über diese Verbindung mokiert hätte. Und am Tag nach dieser erschöpfenden Andachtsübung ward ihr Gebet erhört. Ein Brief kam. Er trug weder Marke noch Stempel. Sie hatte vorsichtshalber auch die Anschrift ihrer Arbeitsstätte angegeben, und der Brief erwartete sie dort, wahrscheinlich irgendwann in der Nacht durch Boten überbracht. Es war ein sehr kurzer Brief, der weder Namen noch Adresse des Absenders aufwies. Die Unterschrift fehlte. Wie ihr eigener war er in gestelztem Französisch abgefaßt, in dem kühnen, fast napoleonischen Gekleckse einer alten und diktatorischen Hand, in der sie sofort die des Generals erkannte.
Selbst in ihrer Erleichterung amüsierte sie sich insgeheim über den melodramatischen Ton des Schreibers. Warum hatte man den Brief nicht direkt in ihre Wohnung gebracht, fragte sie sich; und warum sollte ich mich sicherer fühlen, weil er mir die Hälfte einer Londoner Ansicht gibt? Das Stück Postkarte stellte nämlich einen Teil von Picadilly Circus dar und war absichtlich brutal schräg abgerissen, nicht abgeschnitten worden. Der Raum für schriftliche Mitteilungen war leer.
Zu ihrem Erstaunen kam der Abgesandte des Generals noch am gleichen Abend.