Er blickte um sich, versuchte, seine Gedanken auf den Verfall außerhalb seiner Person zu konzentrieren. Vergammelte Feuerlöscher, Stiftung des Arbeitsministeriums. Braune Sofas mit kratzigem Bezug, etwas fleckiger als damals. Doch im Gegensatz zu alten Generälen sterben sichere Wohnungen nie, dachte er. Sie schwinden nicht einmal dahin.
Auf dem Tisch vor ihm warteten die dürftigen Attribute der Agenten-Gastlichkeit, bereitgestellt zur Belebung des unbelebbaren Gastes. Smiley machte Bestandsaufnahme. In einem Kübel mit geschmolzenem Eis eine Flasche Stolochnaya-Wodka, Wladimirs aktenkundige Lieblingsmarke. Salzheringe, noch in der Dose. Essiggurken, lose gekauft und schon am Austrocknen. Ein obligatorischer Laib Schwarzbrot. Wie jedem Russen, den Smiley je gekannt hatte, war es Wladimir kaum möglich gewesen, seinen Wodka ohne diese Beigabe zu trinken. Zwei Wodkagläser von Marks & Spencer, könnten sauberer sein. Ein Päckchen russischer Zigaretten, ungeöffnet: Wäre er gekommen, er hätte sie aufgeraucht, er hatte keine Zigaretten bei sich gehabt, als er starb.
Wladimir hatte keine bei sich, als er starb, wiederholte er für sich und machte sich einen Knoten ins Gedächtnis.
Ein
Scheppern riß Smiley aus seinen Gedanken. Der junge Mostyn hatte in der Küche
einen Teller fallen lassen. Lauder Strickland wirbelte am Telefon herum und
erbat sich Ruhe. Doch die war inzwischen schon wieder eingetreten. Was machte
Mostyn eigentlich? Abendessen? Frühstück? Buk er Aniskuchen für den
Leichenschmaus? Und was war Mostyn?
Lacon blieb mitten in seinem Herumwandern abrupt stehen. »George! Sie sehen sorgenvoll aus. Nicht doch. Wir haben alle ein reines Gewissen in dieser Sache, jeder von uns!«
»Ich sorge mich nicht, Oliver.«
»Sie sehen aus, als machten Sie sich Vorwürfe. Ich kenne Sie!«
»Wenn Agenten sterben -« sagte Smiley, ließ aber den Satz in der Luft hängen, und Lacon konnte das Ende ohnehin nicht abwarten. Er hatte sich wieder in Marsch gesetzt, wie ein Wandersmann, der noch Meilen vor sich hat. Lacon, Strickland, Mostyn, dachte Smiley, als Stricklands schottisch gefärbtes Stakkato erneut einsetzte. Ein Regierungsfaktotum, ein Circus-Intrigant und ein verschreckter Junge. Warum keine echten Leute? Warum nicht Wladimirs Einsatzleiter, wer immer es sei? Warum nicht Saul Enderby, ihr Chef?
Ein
Vers von Auden kam ihm in den Sinn, aus den Tagen, als er Mostyns Alter hatte:
Und warum Smiley? dachte er. Warum ausgerechnet ich? Ein Mann, der für sie töter ist als der alte Wladimir?
»Möchten Sie Tee, Mr. Smiley, oder lieber etwas Stärkeres?« rief Mostyn durch die offene Küchentür. Smiley fragte sich, ob der junge Mensch wohl von Natur aus so blaß war.
»Er
möchte nur Tee, danke schön, Mostyn«, bellte Lacon und drehte sich scharf auf
dem Absatz um. »Nach einem Schock nichts wie Tee. Mit Zucker, ja, George?
Zucker gleicht Energieschwund aus. War es
Nein, es war nicht gräßlich, es war die Wahrheit, dachte Smiley. Er wurde erschossen, und ich habe ihn tot gesehen. Vielleicht solltet ihr das auch tun.
Lacon konnte Smiley anscheinend nicht in Ruhe lassen, er war quer durch das Zimmer zurückgekommen und schaute ihn mit aufmerksamen, verständnislosen Augen an. Er war ein fader Mensch, hektisch, aber ohne Schwung, mit grausam gealterten jugendlichen Zügen und einem häßlichen entzündeten Ausschlag rings um den Hals, wo das Hemd die Haut wundgescheuert hatte. In dem Kirchenlicht zwischen Dämmerung und Morgen schimmerte seine schwarze Weste und sein weißer Kragen wie eine Soutane.
»Ich habe Sie kaum begrüßt«, klagte Lacon, als sei dies Smileys Schuld. »George. Alter Freund. Mein Gott.«
»Hallo, Oliver«, sagte Smiley.
Doch Lacon blieb bei ihm stehen und sah auf ihn hinunter, den langen Kopf auf die Seite gelegt, wie ein Kind, das einen Käfer betrachtet. In Smileys Geist spulte Lacons Telefonanruf von vor zwei Stunden nochmals ab.
Es
Ja, ich erinnere mich an den General, hatte er geantwortet. Ja, Oliver, ich erinnere mich an Wladimir.