Joona geht hinein, hält sich im Hintergrund und verfolgt die forensische Untersuchung. Es hat ihm immer gefallen, bei der Arbeit der Kriminaltechniker dabei zu sein, zu sehen, wie sie systematisch alles fotografieren, jede Spur sichern und sorgsam über jedes Stadium Protokoll führen. Die fortschreitende Untersuchung eines Tatorts ist ein Werk der Zerstörung. Im Laufe der Zeit wird er Schicht für Schicht kontaminiert und auseinandergenommen. Es gilt, den Tatort in der richtigen Reihenfolge zu zerstören, damit keine Beweise oder Anhaltspunkte verloren gehen.
Joona lässt den Blick über Penelope Fernandez’ gepflegte Wohnung schweifen. Was hat Björn Almskog hier gemacht? Er kam, als Penelope gegangen war. Das wirkt fast so, als hätte er sich vor ihrem Hauseingang versteckt und darauf gewartet, dass sie fahren würde. Vielleicht war es wirklich nur ein Zufall, aber es ist ebenso gut möglich, dass er sie nicht treffen wollte.
Björn eilte ins Haus, begegnete dem Kind auf der Treppe, hatte keine Zeit, mit dem Mädchen zu reden, sagte ihr, dass er nur etwas holen wolle, und blieb nur wenige Minuten in der Wohnung.
Vermutlich hat er etwas geholt, wie er es dem Mädchen gesagt hat. Vielleicht hatte er den Bootsschlüssel oder etwas anderes vergessen, was man in die Tasche stecken kann.
Vielleicht hat er es aber auch dagelassen. Vielleicht musste er nur einen Blick auf etwas werfen, eine Information überprüfen, eine Telefonnummer heraussuchen.
Joona geht in die Küche und schaut sich um.
»Habt ihr den Kühlschrank durchsucht?«
Ein junger Mann mit Kinnbart sieht ihn an:
»Hast du Hunger?«, fragt er in einem breiten Dalarna-Dialekt.
»Es ist ein guter Ort, um Sachen zu verstecken«, antwortet Joona.
»So weit sind wir noch nicht gekommen«, erwidert der Mann.
Joona kehrt ins Wohnzimmer zurück und sieht, dass Saga in einer Ecke des Raums immer noch in ein Diktiergerät spricht.
Tommy Kofoed montiert einen Klebestreifen mit gesicherten Fasern auf OH-Film und blickt auf.
»Irgendetwas Ungewöhnliches?«, erkundigt sich Joona.
»Ungewöhnlich? Na ja, ein Schuhabdruck auf der Wand …«
»Sonst nichts?«
»Was wichtig ist, zeigt sich meistens erst im Labor in Linköping.«
»Haben wir in einer Woche einen Bericht?«, fragt Joona.
»Wenn wir denen wie der Leibhaftige auf die Pelle rücken«, antwortet Kofoed und zuckt mit den Schultern. »Ich will mir als Nächstes die Leiste ansehen, die von dem Messer getroffen wurde, und einen Abguss von der Klinge machen.«
»Lass es«, murmelt Joona.
Kofoed hält dies für einen Witz und lacht, wird dann aber ernst.
»Hast du das Messer gesehen – war es aus Stahl?«
»Nein, die Klinge war heller, vielleicht gesintertes Wolframcarbid, wie es manche bevorzugen. Aber das wird uns nicht weiterbringen.«
»Was?«
»Die Tatortuntersuchung«, antwortet Joona. »Wir werden weder DNA noch irgendwelche Fingerabdrücke finden, die uns dem Täter näherbringen.«
»Und was sollen wir dann tun?«
»Ich glaube, dass der Mann hergekommen ist, um nach etwas zu suchen, und ich glaube, dass er gestört wurde, ehe er es finden konnte.«
»Du meinst, das, wonach er gesucht hat, ist noch hier?«
»Gut möglich«, antwortet Joona.
»Aber du hast keine Ahnung, was es ist?«
»Es findet Platz in einem Buch.«
Joonas granitgraue Augen begegnen für einen kurzen Moment Kofoeds braunen Augen. Göran Stone vom Staatsschutz fotografiert die Tür zum Badezimmer, beide Seiten, den Türrahmen, die Scharniere. Anschließend setzt er sich auf den Fußboden, um die weiße Badezimmerdecke zu fotografieren. Joona will gerade die Wohnzimmertür öffnen, um ihn zu bitten, einige Bilder von den Zeitschriften auf dem Couchtisch zu machen, als das grelle Licht eines Kamerablitzes ihn blendet. Joona muss stehen bleiben, ihm ist schwarz vor Augen. Vier weiße Punkte gleiten durch sein Blickfeld, gefolgt von einer ölig schimmernden hellblauen Handfläche. Joona sieht sich um, ohne zu erkennen, woher die Hand gekommen ist.
»Göran«, ruft er mit lauter Stimme durch die Glastür zum Flur. »Mach das noch mal!«
Alle in der Wohnung halten inne. Der Kriminaltechniker aus Dalarna lugt aus der Küche heraus, der Mann an der Wohnungstür sieht Joona interessiert an. Tommy Kofoed nimmt seine Schutzmaske herunter und kratzt sich am Hals. Göran Stone bleibt mit fragender Miene auf dem Boden sitzen.
»Genau wie gerade. Fotografier bitte noch einmal die Badezimmerdecke.«
Göran Stone zuckt mit den Schultern, hebt die Kamera und macht eine weitere Aufnahme von der Badezimmerdecke. Die Kamera blitzt, und Joona spürt, wie seine Pupillen sich zusammenziehen und seine Augen zu tränen beginnen. Er schließt sie und sieht noch einmal ein schwarzes Quadrat. Es ist die Glasscheibe in der Tür, sie hat sich dadurch, dass er geblendet wurde, in ein Negativbild verwandelt.
Mitten in dem Quadrat sieht er vier weiße Flecken und daneben treibt eine hellblaue Hand heran.
Er wusste, dass er sie gesehen hat.