Erst als Kriminalkommissar Joona Linna aus dem Treppenhaus der Botschaft kommt und im Erdgeschoss durch den Flur eilt, spürt er die Belastung der Lunge und das Brennen in den Augen. Er muss an die frische Luft, muss atmen. Er hustet, stützt sich an der Wand ab, geht trotzdem weiter. Aus der oberen Etage ist eine neuerliche Explosion zu hören, eine Deckenlampe löst sich und fällt vor ihm zu Boden. Er hört die Sirenen der Einsatzfahrzeuge. Mit schnellen Schritten geht er das letzte Stück zum Haupteingang der Botschaft. Auf dem asphaltierten Platz vor der Tür stehen sechs deutsche Militärpolizisten. Sie bewachen die provisorische Sicherheitskontrolle. Joona saugt die frische Luft in seine Lunge ein, hustet und schaut sich um. Zwei Löschzüge haben ihre Leitern ausgefahren. Vor den Toren wimmelt es von Polizisten und Sanitätern. Karl Mann liegt auf dem Rasen, ein Arzt beugt sich über ihn und hört seine Lunge ab. Penelope Fernandez geht mit einer Decke um die Schultern am Zaun zur japanischen Botschaft entlang.
In letzter Sekunde war Joona noch einmal in die Herrentoilette zurückgekehrt und hatte den Rucksack an sich genommen, der in einer der Toiletten hinter den Spülkasten gepresst worden war. Es war bloß ein spontaner Einfall gewesen. Es wollte ihm einfach nicht in den Kopf, warum der Killer einen leeren Rucksack verstecken wollte, obwohl er Pistole und Magazine deutlich sichtbar in einem Waschbecken zurückließ.
Er hustet erneut, öffnet den Rucksack aus grobem Nylon und schaut hinein. Die Tasche ist doch nicht völlig leer. Sie enthält drei verschiedene Pässe und ein kurzes Kampfmesser mit frischem Blut an der Klinge.
»Auf wen hast du eingestochen?«, fragt Joona sich.
Er wirft noch einen Blick auf das Messer, die weiße Klinge aus gesintertem Metallpulver, das gerinnende Blut und lässt anschließend den Blick ein weiteres Mal über das Gelände schweifen, über die Krankenwagen und die Menschen jenseits der Tore zur Botschaft. Eine Frau mit verbranntem Kleid liegt auf einer Trage und hält die Hand einer anderen Frau.
Ein älterer Mann mit Rußflecken auf der Stirn spricht mit vollkommen leeren Augen in ein Telefon.
Joona erkennt seinen Irrtum, lässt den Rucksack und das blutige Messer fallen, läuft zum Tor, schreit dem Wachmann zu, dass er ihn hinauslassen soll.
Er verlässt das Botschaftsgelände, eilt an einigen Kollegen vorbei, setzt über das Plastikband, mit dem das Gelände weiträumig abgesperrt worden ist, zwängt sich wortlos an den Journalisten vorbei und rennt auf die Straße. Er stellt sich direkt vor den gelben Krankenwagen, der gerade abfahren will.
»Haben Sie die Wunde am Arm schon untersucht?«, ruft er und hält seinen Dienstausweis hoch.
»Was sagen Sie?«, fragt der Fahrer.
»Der Patient, der durch die Bombe verletzt wurde, hat eine Wunde an der Schulter, und ich …«
»Die ist angesichts seiner sonstigen Verletzungen nun wirklich nicht …«
»Ich muss die Wunde sehen«, unterbricht Joona ihn.
Der Krankenwagenfahrer will erneut protestieren, aber etwas in Joonas Stimme bewirkt, dass er es sich anders überlegt. Joona geht um den Wagen herum, öffnet die hinteren Türen. Das Gesicht des Mannes ist vollständig von Kompressen bedeckt, ein Sauerstoffschlauch führt in die Nase, aus seinem Mund wird Schleim abgesaugt. Einer der Rettungssanitäter schneidet hastig die schwarze Jacke und das Hemd des Patienten auf und entblößt die Schulterwunde.
Es ist keine Schussverletzung, die Wunde rührt eindeutig von einem Messer her, es handelt sich um eine tiefe Stichwunde.
Joona verlässt den Krankenwagen, sucht schnell das Gelände ab und begegnet Sagas Blick zwischen all den Menschen und Autos. Sie hält einen Plastikbecher mit Wasser in der Hand, aber als sie seine Augen sieht, wirft sie den Becher fort und läuft zu ihm.
»Er entkommt uns wieder«, sagt er zu sich selbst. »Er darf uns einfach nicht noch einmal entkommen.«
Joona schaut sich um, denkt daran, dass er eben, als er aus der Botschaft herauslief, Penelope Fernandez am Zaun zur japanischen Botschaft vorbeigehen sah, sie hatte eine Decke um die Schultern gelegt und bog in die Gärdesgatan ein.
»Hol ein Gewehr«, ruft Joona Saga zu und läuft los.
Er folgt dem Zaun, biegt rechts ab, hält Ausschau, sieht aber weder Penelope noch den Killer.
Eine Frau lässt ihre schlanken Dalmatiner auf der Grasfläche hinter dem Italienischen Kulturinstitut frei herumlaufen.
Hinter ihm ruft Saga etwas, aber er versteht sie nicht, sein Herz schlägt zu schnell, in seinem Kopf rauscht es. Er wird noch einmal schneller, läuft auf ein kleines Waldstück zu und hört plötzlich einen Pistolenschuss. Er stolpert in einen Graben hinunter, eilt eine Böschung hinauf und rennt zwischen die Bäume.
Weitere Pistolenschüsse werden abgefeuert, es knallt kurz und schneidend.