Doch er war nicht in der Bibliothek. Denn plötzlich erschien er im Refektorium, im üblichen makellosen schwarzen Anzug. »Vincent, herzlich willkommen.« Er streckte die Hand aus, D’Agosta schüttelte sie. »Legen Sie Ihren Mantel doch dort über den Stuhl.« Proctor ging zwar an die Haustür, um Gästen zu öffnen, bot einem aber niemals an, den Mantel abzunehmen. D’Agosta hatte schon immer das Gefühl, dass Proctor sehr viel mehr war als lediglich der Hausdiener und Chauffeur, doch worin genau seine Aufgaben bestanden und in welcher Beziehung er eigentlich zu Pendergast stand, dahinter war er noch nicht gekommen.
Er zog seinen Mantel aus und wollte ihn sich gerade über den Arm legen, als Proctor ihm diesen zu seiner nicht geringen Verwunderung abnahm. Während sie durch den Speisesaal in die Empfangshalle gingen, fiel D’Agostas Blick unwillkürlich auf das leere Marmorpodest, auf dem früher einmal eine Vase gestanden hatte.
»Ja, ich schulde Ihnen eine Erklärung.« Pendergast deutete auf das Podest. »Es tut mir sehr leid, dass Constance Ihnen mit der Ming-Vase einen Schlag auf den Kopf versetzt hat.«
»Mir auch.«
»Ich entschuldige mich, Ihnen nicht schon früher den Grund dafür genannt zu haben. Sie hat es getan, um Ihnen das Leben zu retten.«
»Okay. In Ordnung.« Aber die Geschichte ergab trotzdem keinen Sinn. Wie so vieles, das mit diesen verrückten Ereignissen in Zusammenhang stand. Er sah sich um. »Wo ist sie eigentlich?«
Pendergast machte ein ernstes Gesicht. »Fort.« Durch seinen eisigen Tonfall verbat er sich alle weiteren Fragen.
Eine peinliche Stille entstand, dann aber schien er milder gestimmt, und er streckte den Arm aus. »Kommen Sie mit in die Bibliothek und erzählen Sie mir, was Sie herausgefunden haben.«
D’Agosta folgte ihm durch die Empfangshalle in ein warmes, wunderschön möbliertes Zimmer. Dort flackerte ein Kaminfeuer. Dunkelgrüne Wände, Eichentäfelung und schier endlose Bücherborde mit alten Bänden. Pendergast zeigte auf einen Ohrensessel auf der einen Seite des Kamins, er selbst nahm auf der anderen Seite Platz. »Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Ich nehme einen grünen Tee.«
»Hm, ein Kaffee wäre prima – wenn Sie welchen dahaben. Schwarz, zwei Stück Zucker.«
Proctor, der im Eingang zur Bibliothek stand, ging los. Pendergast lehnte sich im Sessel zurück. »Wie ich höre, haben Sie den Leichnam identifiziert.«
D’Agosta beugte sich im Sessel etwas nach vorn. »Das stimmt.«
»Und?«
»Na ja, zu meiner Überraschung haben wir einen passenden Fingerabdruck gefunden. Er ist fast sofort aufgetaucht – ich nehme an, weil die Frau digital erfasst wurde, als sie sich für das Global Entry System bewarb – Sie wissen schon, das Trusted-Traveler-Programm der Organisation der naturwissenschaftlichen und technischen Studentenschaft. Sie heißt Grace Ozmian, ist zweiundzwanzig Jahre alt, die Tochter von Anton Ozmian, dem Tech-Milliardär.«
»Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor.«
»Ozmian hat große Teile der Technologie erfunden, die Verwendung findet, um Musik- und Videomaterial zu streamen. Er ist der Gründer eines Unternehmens namens DigiFlood. Kindheit in ärmlichen Verhältnissen, aber er ist schnell aufgestiegen. Heute ist er steinreich. Jedes Mal, wenn eine Streaming-Software auf ein Gerät geladen wird, verdient seine Firma daran.«
»Und Sie sagen, es handelt sich um seine Tochter?«
»Genau. Ozmian ist Libanese in zweiter Generation und mit einem Stipendium aufs MIT gegangen. Grace wurde in Boston geboren, die Mutter starb bei einem Flugzeugabsturz, als sie fünf war. Sie ist in der Upper East Side aufgewachsen, hat Privatschulen besucht, schlechte Noten, hat nie gejobbt, hat das Studium abgebrochen und mit dem Geld des Vaters ein Jetset-Leben geführt. Hat vor ein paar Jahren auf Ibiza gelebt, dann Mallorca, ist aber vor rund einem Jahr nach New York zurückgekehrt und wohnt seitdem zusammen mit ihrem Vater im Time Warner Center. Ihm gehört da eine Neunzimmerwohnung – richtiger gesagt, drei Wohnungen, die zusammengelegt wurden. Ihr Vater hat die Tochter vor vier Tagen als vermisst gemeldet. Er hat der New Yorker Polizei die Hölle heißgemacht und vermutlich auch dem FBI, hat einen Haufen Beziehungen spielen lassen bei dem Versuch, seine Tochter zu finden.«
»Zweifellos.« Pendergast hob seine Teetasse an den Mund und trank einen Schluck. »Hatte die Tochter mit Drogen zu tun?«