Mit den sonnenverbrannten, auseinandergespreizten Fingern der rechten Hand hält sie mir einen Krug kalter, unabgerahmter Milch hin, die frisch aus dem Keller kommt; der Krug ist außen mit Reif bedeckt, der wie Perlen glitzert. Auf der linken Handfläche reicht mir die Alte eine große Schnitte noch warmen Brotes. – »Iß nur, sei dirs gesegnet, willkommener Gast!«
Mit einem Male kräht der Hahn und schlägt heftig mit den Flügeln; ihm zur Antwort blökt nach einer Weile ein eingesperrtes Kalb.
– »Das nenn ich mir Hafer!« ertönt die Stimme meines Kutschers...
O diese Genügsamkeit, diese Ruhe, dieser Wohlstand des freien russischen Dorfes! Dieser stille Friede und Segen!
Und da denke ich mir denn so: was soll uns dann noch ein Kreuz auf der Kuppel der Hagia Sophia in Byzanz und all das übrige, um das wir uns so heiß bemühen, wir Stadtmenschen?
Ein Zwiegespräch
Weder auf der Jungfrau noch auf dem Finsteraarhorn war je ein menschlicher Fuß.
Die höchsten Gipfel der Alpen... Eine ganze Kette zerklüfteter Felsenmassen... Das Herz des Gebirgsstockes. Über den Bergen wölbt sich blaßgrün, glänzend und stumm der Himmel. Strenger, schneidender Frost; harter, flimmernder Schnee; aus dem Schnee hervor ragen rauhe Zacken vereister, verwitterter Felsblöcke. Zwei Kolosse, zwei Riesen recken sich zu beiden Seiten des Horizontes empor: Jungfrau und Finsteraarhorn. Und die Jungfrau spricht zum Nachbar: »Was gibt es Neues? Du hast freieren Ausblick. Was geht da unten vor?«
Es vergehen einige Jahrhunderte: eine Minute.
Und Finsteraarhorn donnert zur Antwort: »Dichte Wolkenmassen verhüllen die Erde... Warte!«
Wieder vergehen Jahrtausende: eine Minute.
»Nun, und jetzt?« fragt die Jungfrau.
»Jetzt sehe ich; dort unten ist alles wie ehedem: bunt, kleinlich. Blau die Wasser; schwarz die Wälder; grau die zusammengetragenen Steinhaufen. Um sie herumwimmeln noch immer diese Käferchen, du weißt, die zweifüßigen, denen es bisher noch nie gelang, dich und mich zu beflecken.«
»Menschen?«
»Ja; Menschen.«
Jahrtausende gehen dahin: eine Minute.
»Nun, und jetzt?« fragt die Jungfrau.
»Die Zahl der Käferchen scheint abgenommen zu haben,« – grollt das Finsteraarhorn; »klarer ist es da unten geworden, die Wasser haben sich verringert, die Wälder gelichtet.«
Wieder verrannen Jahrtausende: eine Minute.
»Was siehst du jetzt?« spricht die Jungfrau.
»Um uns her, in der Nähe ist es sichtlich reiner geworden,« – erwidert das Finsteraarhorn; »da hinten nur, in der Ferne, in den Tälern sind noch Flecken, und dort bewegt sich noch etwas.«
»Aber jetzt?« fragt die Jungfrau, als weitere tausend Jahre verrauschten – eine Minute.
»Jetzt ist es gut,« – antwortet das Finsteraarhorn; – »rein ist es überall und ganz weiß, wohin man auch blickt... Überall unser Schnee, nichts wie Schnee und Eis. Erstarrt ist alles. Gut ist es jetzt, ruhig.«
»Gut« – wiederholt die Jungfrau. – »Allein, wir haben jetzt genug geplaudert, Alter. Zeit ist’s, einzuschlafen.«
»Es ist Zeit.«
Sie schlafen, die gewaltigen Bergriesen; es schläft der grüne, leuchtende Himmel über der auf ewig verstummten Erde.
Die Alte
Ich ging auf einem weiten Felde, allein.
Plötzlich war es mir, als ob leise, vorsichtige Tritte hinter meinem Rücken vernehmbar würden... Es folgte mir jemand.
Ich schaute mich um – und gewahrte eine kleine, gebeugte Alte, ganz in graue Lumpen gehüllt. Aus ihnen hervor war nur das Antlitz der Alten sichtbar: ein gelbes, runzliges, scharfnasiges, zahnloses Antlitz. Ich ging auf sie zu... Sie blieb stehen.
»Wer bist du? Was willst du? Bist du eine Bettlerin? Erwartest du ein Almosen?«
Die Alte gab keine Antwort. Ich beugte mich zu ihr herab und bemerkte, daß ihre beiden Augen mit einem halbdurchsichtigen, weißlichen Überzug oder Häutchen bedeckt waren wie bei gewissen Vögeln: deren Augen werden dadurch vor allzu grellem Licht geschützt.
Bei der Alten aber blieb das Häutchen unbeweglich und ließ die Pupillen nicht hervortreten... woraus ich schloß, daß sie blind sei.
»Willst du ein Almosen?« – wiederholte ich meine Frage. – »Weshalb folgst du mir?« – Doch die Alte blieb stumm wie zuvor, nur krümmte sie sich ein wenig. Ich wandte mich ab und setzte meinen Weg fort.
Da, wiederum höre ich hinter mir dieselben leisen, gemessenen, gleichsam schleichenden Tritte.
– Wieder dieses Weib! – dachte ich bei mir; – warum verfolgt sie mich denn nur? – Doch gleich kam mir auch der weitere Gedanke: sie wird wahrscheinlich in ihrer Blindheit den Weg verfehlt haben und folgt jetzt dem Schall meiner Schritte, um zusammen mit mir zu menschlichen Wohnungen zu gelangen. Ja ja, so wird’s sein.
Allein, nach und nach bemächtigte sich meiner Gedanken eine seltsame Unruhe: nun wollte es mir scheinen, als ob diese Alte mir nicht bloß folge, sondern daß sie mich sogar lenke, mich bald nach rechts, bald nach links stoße, und daß ich ihr willenlos gehorchen müsse.