Es war zu dunkel, um Einzelheiten zu erkennen, aber das Wenige, was Tally sah, ließ sie erschauern. Es war kein Kampf, sondern ein entsetzliches Gemetzel, bei dem es der Stadtgarde längst nicht mehr darauf ankam, die Klorschas zurückzudrängen. Immer wieder sah sie, wie kleinere oder auch größere Gruppen der Klorschas von den Kampfinsekten der Stadtgarde eingeschlossen und bis auf den letzten Mann niedergemacht wurden. Aber auch die Klorschas wehrten sich mit erstaunlichem Erfolg. Mehr als eine Beterin – die die Hauptmacht der Verteidiger stellten – wurde vor Tallys Augen überrannt und regelrecht in Stücke gerissen, trotz ihrer ungeheuerlichen Körperkräfte. Die Slambewohner schienen eine gewisse Übung darin zu haben, mit den gepanzerten Ungeheuern fertig zu werden.
Trotzdem bestand am Ausgang des Kampfes von vornherein kein Zweifel. Die Klorschas wurden zurückgetrieben, sehr langsam, aber unbarmherzig. Das Haus, in dem sie Zuflucht gesucht hatten, hatte im Zentrum des Kampfes gelegen, aber schon nach einer Stunde bewegte sich die Front der Hornköpfe wieder nach Süden. Und aus der Stadt strömten mehr und mehr der gigantischen Kreaturen herbei.
Schließlich wurde es Tally einfach müde, dem Kampf zuzusehen. Es ging bereits auf den Morgen zu, aber der Wind hatte sich gedreht, und mit dem Brandgeruch verschwand auch die Wärme, die bisher aus der brennenden Abfallstadt herübergeweht war. Tally zog fröstelnd den Mantelkragen enger zusammen, verbarg die Hände unter den Achselhöhlen und trat auf der Stelle, um gegen die lähmende Kälte anzukämpfen, die in ihren Beinen emporkriechen wollte. Sie war müde; eine Nacht ohne Schlaf und die stundenlange Flucht durch die Slamstadt forderten ihren Preis.
Sicher wäre es klüger gewesen, hinunterzugehen und wenigstens noch eine oder zwei Stunden zu schlafen; was Wellers Worten zufolge ohne Risiko möglich gewesen wäre. Aber irgend etwas in ihr sträubte sich gegen den Gedanken, sich jetzt hinzulegen, als wäre nichts geschehen. Was sie sah, machte ihr mehr zu schaffen, als sie sich selbst eingestehen wollte.
Es war nicht nur der Kampf. Schlimmer war der Gedanke, daß alles, was sie sah, zumindest indirekt ihre Schuld war. Sie hatte gehofft, daß sich das Feuer ausbreitete, schon, um den Korschas – und auch der hornköpfigen Garde von Schelfheim – genug Beschäftigung zu verschaffen, die Jagd auf sie und Hrhon für eine Weile zu vergessen. Aber
Schritte drangen in ihre Gedanken. Müde drehte sie sich herum, blickte in Wellers bleiches Gesicht und wandte sich wieder der brennenden Stadt zu. Trotz des eisigen Windes spürte sie die Hitze der Flammen wie eine glühende Hand auf ihrer Haut. Die Berge und die Klippe waren hinter einer wabernden schwarzen Wand verschwunden, als hätte das Feuer die Welt dort einfach ausgelöscht.
»Warum schläfst du nicht?« fragte Weller, nachdem er neben sie getreten und ebenfalls eine Weile schweigend auf das entsetzliche Schauspiel herabgeblickt hatte. »Bis zu Karans Haus ist es noch eine schöne Strecke. Du wirst deine Kräfte brauchen.«
Die Flammen spiegelten sich wie kleine rote Funken in seinen Augen. Er war bleich, und in seiner Stimme war ein neuer, sehr müder Ton, der nicht so recht zu seiner hünenhaften Erscheinung passen wollte. Anders als Tally hatte er sich auf eines der leerstehenden Betten gelegt, nachdem sie das Haus erreicht hatten. Aber auch er schien keinen Schlaf gefunden zu haben. Wahrscheinlich hatte er Schmerzen – eine Seite seines Bartes war verschwunden, die Haut darunter rot und angeschwollen. Keine Verletzung, die wirklich gefährlich war. Aber Tally wußte, wie sehr gerade leichtere Verbrennungen weh taten.
»Du machts dir Vorwürfe, wie?« fragte Weller, als Tally nicht auf seine Worte reagierte. Er deutete mit einer Kopfbewegung auf die Mauer aus Hitze und Licht, eine halbe Meile vor ihnen. Kleine, wie Scherenschnitte wirkende Gestalten huschten vor der Flammenwand auf und ab. »Deshalb.«
»Sollte ich?« fragte Tally knapp.
Weller schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist nicht das erste Mal, weißt du? Dieser Müllhaufen brennt jedes Jahr mindestens einmal bis auf die Grundmauern ab. In ein paar Wochen haben sie alles wieder aufgebaut.« Er seufzte, fast, als täte es ihm leid. »Nun mach dich nicht selbst verrückt, Tally. Du hattest keine Wahl. Hättest du den Brand nicht gelegt, wären wir jetzt tot. Oder Schlimmeres. Um diesen Dreckhaufen da ist es nicht schade.«
»Und die Menschen, die dort gelebt haben?«
»Die Klorschas?« Weller lachte böse. »Keine Sorge – wenn sie etwas können, dann ist es fortlaufen. Die meisten werden es überleben.«
»Das klingt, als würdest du es bedauern«, sagte Tally.