Und nach einer Weile glaubte sie sogar zu spüren, was Karan meinen mochte. Sie spürte nichts von Weite und Erhabenheit und Ehrfurcht, nichts von alledem, was Karan von ihr erwarten mochte, aber zum erstenmal in ihrem Leben blickte sie wirklich in die Unendlichkeit hinab. Es gab keinen Horizont, ja, es war, als lösten sich nach einer Weile alle bekannten Begriffe auf. Es gab kein Hier oder Dort, kein Oben, Unten, Rechts oder Links – der Schlund war einfach da, und er war gewaltig. Richtungen spielten keine Rolle, wenn es nichts gab, was sie begrenzte.
»Was weißt du über die Geschichte unserer Welt?« fragte Karan nach einer Weile.
»Nicht viel«, erwiderte Tally. Es fiel ihr schwer zu sprechen. Der Anblick der ungeheuerlichen Weite unter ihr lähmte sie. Sie sah eine ungeheuerliche, weißgetupfte Masse, tief, unglaublich
»Sie ist alt, Kind«, fuhr Karan fort, mit leiser, fast tonloser Stimme, als führe er Selbstgespräche. Wahrscheinlich tat er es. »Sie war schon alt, als der Mensch noch ein Gedanke in der Unendlichkeit war. Manche behaupten, daß sie stirbt, und daß wir die letzten sind, denen sie Heimat ist. Früher einmal, vor undenklichen Zeiten, war sie reich und fruchtbar, ein Paradies, das allen Wesen Raum bot. Es gab reiche Länder, fruchtbare Ebene, größer, als du dir vorstellen kannst, und Meere, so gewaltig, daß ein Schiff ein Jahr lang segeln konnte, ohne auf Land zu stoßen.« Er deutete nach unten. »Der Schlund war früher ein Meer.«
Tally sah ihn zweifelnd an. Der Schlund – ein
»Du glaubst Karan nicht«, sagte der Alte. »Und doch war es so. Einstmal war all dies dort Wasser, eine so ungeheuerliche Menge von Wasser, daß niemand sie sich vorzustellen vermag. Karan weiß nicht, ob es Schelfheim damals schon gab, doch wenn, so lag es nicht an der Klippe, sondern war ein Hafen, in den Schiffe einliefen und nach Norden segelten. Dies alles war gefüllt mit Wasser, und der Schlund, die Hölle, war der Grund eines Meeres.«
Tally schwindelte allein bei der Vorstellung, aber sie hatte auch keinen triftigen Grund, Karans Worte zu bezweifeln. Im Gegenteil – jetzt, als er es ihr einmal gesagt hatte, klangen sie fast einleuchtend. Was nicht hieß, daß Tally es etwa schon wirklich
»Das weiß niemand«, antwortete Karan. »Manche sagen, es ist einfach verschwunden, so wie ein See austrocknet, in einem heißen Jahr. Andere behaupten, die Menschen hätten die Götter gefrevelt, und sie hätten ihnen zur Strafe das Wasser genommen. Wieder andere sagen, der Mensch hätte nach den Sternen gegriffen und ihre Macht entfesselt, so lange, bis er ihr selbst nicht mehr Herr geworden wäre. Wer will sagen, was nun stimmt? Karan kann es nicht.« Er lachte leise. »Manche behaupten gar, es wäre noch da, nur tief unter dem Boden des einstigen Meeres, gefangen in gewaltigen Höhlen, die aufbrachen, als der Mensch nach verbotenem Wissen griff.«
»Und was ist wirklich dort unten?« fragte Tally leise.
»Die Hölle«, antwortete Karan. »Oder das Paradies.« Tally sah ihn fragend an.
»Es gibt sie noch, diese Welt, von der Karan gesprochen hat«, fuhr Karan fort. »Eine Welt voller Leben. Siehst du das Grün?«
Tally nickte.
»Es ist Leben«, sagte Karan. »Ein Leben, wie du es dir nicht einmal vorzustellen vermagst. Aber es ist gefährlich. Es ist böse, und es tötet dich, noch ehe du es bemerkst. Es gibt Wälder dort unten, größer als unsere Welt, und so dicht, daß das Licht der Sonne nicht den Boden erreicht.«
»Dann warst du wirklich dort«, murmelte Tally.
Karan lächelte. »Hast du daran gezweifelt?« fragte er, beinahe sanft. »Karan war dort, aber er hat geschworen, es nie wieder zu tun. Für nichts auf der Welt.«
»War es so schlimm?« fragte Tally.
»So schön«, erwiderte Karan ernst. »Es ist das Paradies, Tally. Aber Karan kann nicht darin leben, so wenig wie du oder irgendein anderer. Und es ist die Hölle, wenn du es siehst, und niemals erreichen kannst.«
»Lebst du deshalb hier?« fragte Tally. Karan nickte.
»Dann beneide ich dich nicht um dein Leben«, fuhr Tally fort. »Es muß... schrecklich sein.«
»Manchmal«, gestand Karan. »Und doch kann Karan nirgendwo anders leben als hier. Irgendwann, wenn seine Zeit gekommen ist, wird er sein Ende hier finden.«