»Du... du willst wirklich dort hinunter?
»Du... du bist völlig verrückt!« fuhr er fort. »Hättest du mir gesagt, was du von ihm willst, dann hätten wir uns das alles sparen können! Karan hat schon Hunderte abgewiesen, die mit der gleichen Bitte zu ihm kamen!«
»Aber ich
»Und warum?« fragte Weller.
»Das geht dich nichts an.«
»Oh doch, das tut es!« behauptete Weller aufgebracht. »Immerhin hast du mich gezwungen, dich zu begleiten. Um ein Haar wäre ich umgebracht worden, und ob ich jemals lebend hier herauskomme, weiß ich noch immer nicht.« Er zog eine Grimasse. »Was immer du dort unten suchst, es ist nicht da«, sagte er mit einer Geste aus dem Fenster. »Glaube mir, Tally, dort unten ist nichts als der Tod.«
»Warst du dort?« fragte Tally spitz.
»Nein«, antwortete Weller wütend. »Niemand war da, außer Karan vielleicht, und auch nur vielleicht.«
»Du glaubst ihm nicht?«
Weller hob wütend die Schultern. »Was weiß ich. Er kann eine Menge behaupten, wenn niemand da ist, der das Gegenteil beweisen kann. Aber selbst wenn – er wird dich nicht hinunterbringen.«
»Ich könnte ihn zwingen«, sagte Tally.
»Du redest Unsinn«, schnaubte Weller. »Du kannst ihn zu einer ganzen Menge zwingen, aber nicht
»Bist du sicher?« fragte Tally böse.
»Ganz sicher«, sagte Weller. »Und das weißt du ganz genau. Willst du wirklich in die Hölle gehen, mit einem Führer, dem du nicht trauen kannst?«
Tally starrte ihn an. Äußerlich wirkte sie ruhig, aber das war für jemanden, der sie kannte, allerhöchstens ein Alarmzeichen. Hinter der Maske aus Gelassenheit und Ruhe brodelte es. Beim Schlund – sie war nicht hierhergekommen, um sich mit einem Nein abspeisen zu lassen, einfach so, weil ein alter Mann zu stur war, sie überhaupt anzuhören.
»Sieh ein, daß es keinen Sinn hat, Tally«, fuhr Weller fort, der ihr Schweigen so falsch deutete, wie es nur ging.
»Ich kenne Karan. Wenn er einmal nein sagt, bleibt es dabei. Keine Macht der Welt kann ihn umstimmen. Und wenn du ihn verärgerst«, fügte er hinzu, »wird er uns rauswerfen. »Du –«
Aber Tally hörte schon gar nicht mehr zu. Sie fuhr wütend herum, stapfte aus dem Raum und ging in das Zimmer zurück, in dem sie geschlafen hatte.
4
Es dauerte nicht lange, bis Karan zu ihr kam. Tally hatte halbwegs damit gerechnet, halbwegs hatte sie es aber auch befürchtet; denn sie ahnte, daß es kaum möglich war, den alten Sonderling umzustimmen. Trotzdem empfing sie ihn so freundlich, wie sie konnte – was angesichts ihrer momentanen Verfassung nicht sonderlich freundlich war.
»Du bist enttäuscht«, begann Karan das Gespräch, »weil Karan dir deinen Wunsch nicht erfüllt.«
Tally schwieg. Sie hatte das bestimmte Gefühl, daß der Alte nicht nur gekommen war, um ein paar Belanglosigkeiten mit ihr auszutauschen. Er war nicht der Typ, der um des Reden willens redete. Aufmerksam sah sie ihn an.
»Du weißt nicht, was du von Karan verlangst.«
»Doch«, widersprach Tally. »Ich weiß es. Aber es ist wichtig für mich.«
»Wichtig?« Karan lächelte auf eigentümliche Art.
»Wichtiger als dein Leben?«
»Ja«, antwortete Tally, so impulsiv, daß Karan sie einen Moment fast erschrocken anstarrte, ehe er abermals lächelte, diesmal aber sehr dünn und fast traurig.
»Du bist ein Kind«, sagte er. »Eine Frau, und trotzdem ein Kind. Dein Leben hat noch nicht einmal richtig begonnen, und du willst es wegwerfen. Warum? Was treibt dich?« Er seufzte, drehte sich auf der Stelle herum und machte eine einladende Geste mit der Linken.
»Komm mit, dummes Kind. Karan will dir etwas zeigen.«
Widerstrebend stand Tally auf und folgte dem Alten. Sie gingen die Treppe hinunter und durchquerten das Kaminzimmer, in dem sie zuvor miteinander gesprochen hatten. Von Weller war keine Spur mehr zu sehen, und auch Jan, Karans Sohn, ließ sich nicht blicken. Überhaupt war das Haus sehr still, dachte Tally. Sie wußte nicht, warum, aber die Vorstellung, mit dem halbverrückten Alten allein in diesem Haus über dem Nichts zu sein, erfüllte sie mit Unbehagen.
Karan trat an das große Fenster, tat etwas, das Tally nicht genau erkannte, und plötzlich glitt ein Teil der mannshohen Glasscheibe mit einem kaum hörbaren Summen zur Seite. Dahinter kam ein kaum meterbreiter, von einer zierlichen schmiedeeisernen Brüstung begrenzter Balkon zum Vorschein. Karan trat mit einem raschen Schritt hinaus, lächelte ihr zu und wiederholte seine auffordernde Handbewegung.
Tally zögerte. Ihr Herz begann zu hämmern. Unter dem Balkon lag der Schlund. Das absolute Nichts. Ein Meilen tiefer Abgrund.
»Was hast du?« fragte Karan spöttisch. »Angst? Noch vor Stundenfrist hast du Karan gebeten, dich dort hinunterzubringen. Und jetzt hast du Angst davor, den Schlund auch nur zu betrachten.« Er schüttelte den Kopf.