Am Morgen seines 37. Geburtstags wachte Scott Bowman durch seinen eigenen erstickten Schrei auf. Er saß aufrecht im Bett und zerrte mit geballten Fäusten an der Bettdecke, so dass der nackte Rücken seiner Frau bloßlag. Er hatte ein panikartiges Gefühl in der Magengrube, und zu seinem eigenen Erstaunen liefen Tränen an seinen stoppeligen Wangen hinunter. Während er orientierungslos und verschwitzt im Bett saß, kullerte eine einzelne Träne auf seine Lippen und drang in seinen Mund. Sie schmeckte salzig auf der Zunge, ein warmer, intimer Geschmack, den er beinahe schon vergessen hatte. Für Tränen hatte es seit sehr langer Zeit keinen Grund mehr gegeben.
Er stellte fest, dass er geträumt hatte. Sofort versuchte er, die Bilder zurückzurufen, die eben noch so plastisch gewesen waren. Aber wie so oft drängten sich andere Gedanken und Wahrnehmungen dazwischen, so dass er tief in seinem Gedächtnis kramen musste.
Er schloss die Augen und versuchte, sich zu konzentrieren. Da war ein steriler, weißer Raum ohne Fenster gewesen. Es war heiß dort gewesen, und er hatte das bedrückende Gefühl gehabt, er sei hier von aller Welt vergessen worden, eingesperrt ... Aber das war alles, was er ins Bewusstsein zurückholen konnte.
Er öffnete die Augen, starrte auf den gebräunten Rücken seiner schlafenden Frau und lauschte ihren regelmäßigen Atemzügen. Gleich darauf, als müsse er sich von ihrer realen Existenz überzeugen, streckte er die Hand nach ihr aus und berührte sie. Krista fuhr zusammen, seufzte leicht und ließ sich zurück in den Schlaf sinken. Scott musste ein wenig lächeln: Krista würde wahrscheinlich sogar wahrend einer Bombenexplosion weiterschlafen. Sie selbst führte es auf ihr reines Gewissen zurück. Es gab einfach nichts, das ihr nervend durch den Kopf ratterte, wenn es Zeit war, die Lebensbatterien wieder aufzuladen.
Während Scott die Hand wieder zurückzog, bemerkte er, wie wichtig der Körperkontakt zu seiner Frau für ihn in diesem Moment war, wichtig wie ein festes Kneifen, das einen wieder zurück in die Realität holt. Es gab ihm die Sicherheit, dass das hier echt war: Krista, das Schlafzimmer, ihr gemeinsames Leben - nicht diese karge, enge Zelle. In dem Traum, der ihm so realistisch und erschreckend logisch vorgekommen war, hatte sein normales Leben nicht mehr existiert. Alles war ihm mit einem Mal auf grausame Art und Weise genommen worden.
Und schon kamen die Bilder in erschreckender Klarheit wieder. Scott schwang die Beine aus dem Bett und blieb wie erstarrt, die Fäuste auf die Matratze gestemmt, sitzen. Eine leichte, durch die Seeluft feuchte Morgenbrise strich durch die dünnen, pfirsichfarbenen Vorhänge und plusterte sie wie von Geisterhand auf. Scott sah aus dem Fenster und ließ den Blick zu den Nebelschwaden über dem See schweifen, ohne sie wirklich wahrzunehmen.
Immer noch hatte er die trostlosen Bilder seines Traums vor Augen.
Der weiße Raum war das Schlüsselbild: Es war nicht ein beliebiges Zimmer, sondern eine Gummizelle gewesen. Während seiner Ausbildung zum Psychiater hatte Scott nur eine einzige irrationale Angst gekannt: trotz geistiger und seelischer Gesundheit in einer Gummizelle zu landen. Es hatte so eine Zelle im Keller des Krankenhauses, in dem er gelernt hatte, gegeben - eine stickige, finstere Kammer, die bis in ihren letzten Winkel mit einer fünfzehn Zentimeter dicken Gummischicht ausgekleidet war. Der Geruch von altem Schweiß und rasender Wut früherer Insassen war aus jedem Winkel der schmutzigen Zelle gesickert, es hatte wie in einem Raubtierkäfig gestunken. Scott hatte nur selten allein hinuntergehen müssen, aber bei solchen Gelegenheiten hatte er jedes Mal vor Angst gezittert, panisch wie ein Kind, das auf einen Kleiderschrank zugeht, aus dem kurz zuvor unheimliche Geräusche wie ein Kratzen oder leises, wütendes Knurren gedrungen sind.
In seinem Traum war Scott in genau so einer Gummizelle eingekerkert gewesen, er hatte die Bilder jetzt klar vor Augen. Seine Arme hatten in einer Zwangsjacke gesteckt, und er war mit Drogen voll gepumpt, die sein Hirn benebelten. Seine Familie, der man weisgemacht hatte, er sei unheilbar geisteskrank, hatte ihn aufgegeben. Und die Leute da draußen, die Leute, die ihn therapierten, waren anonym geblieben und unzugänglich gewesen. Keine seiner Äußerungen wurde ernst genommen, Ärzte und Pfleger hielten sie für das irre Geschwafel eines Geisteskranken. Aber er war nicht irre. Allerdings würde es, falls er nicht bald entlassen werden sollte, irgendwann zu spät sein, um ...
An diesen Teil des Traums kam er nicht mehr heran. Angesichts des warmen, goldenen Lichts des erwachenden Augustmorgens war er auch keineswegs sicher, ob er den Rest überhaupt wissen wollte. Letztendlich war es doch nur ein Traum gewesen.