Osijek muss ja gar nicht sein, versuche ich Mutter zu vertrösten, ihr habt ja wirklich nicht ahnen können, dass ich gewinne.
Osijek ist nämlich ein Problem, niemand kann mich hinfahren, da niemand ahnen konnte, dass ich gewinne und deshalb alle schon Pläne gemacht haben. Sagt meine Mutter. Sie sagt nicht: weil in Kroatien geschossen wird. Sie sagt nicht: weil in Osijek ein Panzer ein rotes Auto zermalmt hat. Sie sagt nicht, dass deswegen das Finale längst abgesagt ist, falls da oben überhaupt noch jemand daran denken kann, Dinge abzusagen.
Ich habe doch selbst Angst!
Die Drei, meine Startnummer, steckt immer noch im Ufer, hier zog ich heute Mittag drei Stunden lang ein Moderlieschen nach dem anderen an Land, einige enthusiastische Döbel und sogar einen kleinen Huchen. Er entglitt mir, weil mich Onkel Miki von hinten anschrie: was machst du denn da, Trottel, lass nicht los, spinnst du!
Ich versichere mich, dass niemand zusieht, gehe in die Hocke und streiche mit dem Handrücken über die Wasseroberfläche. Wie hört sich dein Herzschlag an?
Auch zu Hause lasse ich die Medaille um. Meine Mutter ruft in den Keller: Picasso, wir sind wieder da, komm mal hoch, hier gibt es was zu sehen.
Onkel Miki wirft sich auf die Couch und schaltet den Fernseher ein. Der Kaffee wird aufgesetzt, mein Vater kommt pfeifend ins Wohnzimmer, reibt sich mit einem Tuch über die Hände.
Du riechst nach Fisch, sagt er und will an mein Haar.
Du riechst nach Azeton, sage ich und ducke mich.
Er tippt die Medaille an. Nicht schlecht!
Ja, sage ich, ganz gut, aber Vater sieht mich gar nicht mehr an, sondern die Füße seines Bruders auf der Couch. Er schiebt sie unsanft auf den Boden und setzt sich zu ihm.
Kaffee und Platzregen. An Augustnachmittagen muss das so sein. Im Fernsehen kommt Osijek, sogar die Drau wird gezeigt. Vielleicht ganz schön, aber wenn um dich herum Häuser brennen, kannst du schlecht schön sein.
Der Krieg wird ausgeschaltet, als Opa Slavko kommt und sich mir gegenüber setzt. Er sieht sich die Urkunde und die Medaille an. Ich habe es geahnt, sagt er, ach was, ich habe es gewusst.
Niemand hat es ahnen können, Opa, wie willst du es gewusst haben?
Opa hebt die Augenbrauen. Ich habe dich beobachtet, letzte Woche an der Brücke, gestern an der Mündung.
Ich habe dich gar nicht bemerkt.
Ich kann sehr leise gucken.
Und wie konntest du sehen, dass ich gewinnen werde?
Ich habe dir angesehen, dass du glücklich bist. Ich habe deinem Mund angesehen, dass er sich bewegt, dabei warst du allein.
Ich musste ein Gedicht auswendig lernen.
Ich glaube, du hast dich unterhalten.
Opa, ich war allein.
Opa Slavko beugt sich zu mir und flüstert: ich glaube, du warst nicht allein, ich glaube, der Fluss war auch da.
Opa!
Aleksandar!
Wir lehnen uns beide zurück, fallen in die Lehne unserer Stühle wie zwei Boxer zwischen den Runden, nur dass Boxer einander selten anlachen. Opas Haar ist dicht und fest und an den Seiten ergraut, wie Vaters Haar und wie mein Haar in dreißig Jahren; er hängt die Daumen in seine Hosenträger über der Brust, beide schütteln wir den Kopf. Ich wäre gern ein mit meinem Opa befreundeter Opa, wir würden zu unseren Enkeln in Rätseln sprechen und jeden Abend mit hinter dem Rücken verschränkten gemeinsamen Erinnerungen und alten Streitigkeiten spazieren gehen.
Hättest du auch in Osijek gewonnen?, fragt Opa, wissend, dass ich nie nach Osijek kommen werde.
Nein.
Warum nicht?
Jetzt beuge ich mich vor und flüstere: es ist doch nicht mein Fluss dort.
Wusstest du, sagt Opa, dass es Völker gibt, die kein einziges Spiel haben, in dem es am Ende einen Gewinner gibt?
Im Amazonas?
Circa.
Wir lehnen uns zurück und sehen uns zufrieden um. Jetzt erst fällt mir auf, dass sonst die ganze Zeit niemand gesprochen hat. Mutter steht an der Tür und trägt heute keine Sorgenfalten. Miki und Vater kneten beide irgendetwas in ihren Händen. Oma ist beim feinen Tellerklirren. Ich sehe meine Familie an, als wäre uns allen etwas gelungen.
Wollen wir morgen Carl Lewis gucken?, frage ich Opa. Ich angle uns das Abendessen, du brätst es, dann gucken wir, ob Carl unter zehn Sekunden bleibt, ja?
Was ich mir wünsche, fragt später, als alle weg sind und ich schon im Bett liege, meine Mutter. Sie nennt mich ihren Chefgenossenangler. Sie weiß, wie sehr ich das Wort »Chefgenosse« mag. Zu müden Siegern ist man sanft.
Ich wünsche mir, dass alles für immer gut bleibt, sage ich.
Wie ist gut?, fragt Mutter und setzt sich auf die Bettkante.