Schließlich, sagte Grigoriew, sei der Priester zu dem eigentlichen Grund für Grigoriews Vorladung gekommen. Der Tod der Ostrakowa, zusammen mit dem furchtbaren Schicksal Alexandras, habe im Leben des heldenhaften Außenagenten eine schwere Krise heraufbeschworen. Kurze Zeit sei er sogar versucht gewesen, seine eminent wichtige Arbeit in Paris aufzugeben, um nach Rußland zurückzukehren und sich seines zerrütteten und mutterlosen Kindes anzunehmen. Aber letzten Endes sei man doch zu einer anderen Lösung gelangt. Da Ostrakow nicht nach Rußland kommen konnte, mußte seine Tochter in den Westen gebracht und in einer Privatklinik gepflegt werden, die dem Vater zugänglich war, wann immer er das Mädchen zu besuchen wünschte. Frankreich war für diesen Zweck zu gefährlich, aber jenseits der Grenze, in der Schweiz, dem argwöhnischen Auge von Ostrakows konterrevolutionären Kumpanen entzogen, konnte die Behandlung durchgeführt werden. Als französischer Staatsbürger hatte der Vater die Ausreisegenehmigung für seine Tochter fordern und die notwendigen Papiere erlangen können. Eine passende Klinik war gefunden worden, nur eine kurze Autofahrt von Bern entfernt. Grigoriews Aufgabe bestehe nun darin, daß er sich um dieses Kind während des Aufenthaltes in der Klinik kümmere. Er müsse das Mädchen besuchen, die Kosten begleichen und wöchentlich über ihre Fortschritte nach Moskau berichten, so daß die Meldung unverzüglich an den Vater weitergeleitet werden könne. Dies sei der Zweck, sowohl des Bankkontos wie dessen, was der Priester als Grigoriews Schweizer Identität bezeichnete.
»Und Sie willigten ein«, sagte Smiley, als Grigoriew eine Pause machte, und man hörte seinen Stift emsig über das Papier kritzeln.
»Nicht sofort. Ich stellte ihm zuvor noch zwei Fragen«, sagte Grigoriew mit einer kuriosen Aufwallung von Eitelkeit. »Wir Akademiker lassen uns nicht so leicht hinters Licht führen, wissen Sie. Zuerst fragte ich ihn natürlich, warum diese Aufgabe nicht von einem der zahlreichen in der Schweiz postierten Vertreter unseres Staatssicherheitsdienstes wahrgenommen werden könne.«
»Eine ausgezeichnete Frage«, sagte Smiley - ein überraschendes Lob aus seinem Munde. »Was hat er darauf geantwortet?«
»Es sei zu geheim. Geheimhaltung, sagte er, sei eine Frage der Abschottung. Er wünsche nicht, daß der Name Ostrakow mit dem Kernpersonal der Moskauer Zentrale in Verbindung gebracht werde. Bei der jetzigen Regelung, sagte er, würde er im Fall einer Panne wissen, daß nur Grigoriew der Schuldige sein könne. Ich war für diese Auszeichnung nicht dankbar«, sagte Grigoriew und feixte Nick de Silsky ein bißchen gezwungen an.
»Und wie lautete Ihre zweite Frage, Herr Botschaftsrat?«
»Sie betraf den Vater in Paris: Wie oft würde er das Mädchen besuchen? Wenn der Vater häufig käme, so wäre mein Auftreten als Ersatzvater völlig überflüssig. Direkte Zahlungen an die Klinik ließen sich arrangieren, der Vater könne jeden Monat aus Paris zu Besuch kommen und sich selber um das Wohlergehen seiner Tochter kümmern. Darauf erwiderte der Priester, der Vater könne nur sehr selten kommen und dürfe in Gesprächen mit dem Mädchen Alexandra auf keinen Fall erwähnt werden. Er fügte, wenig folgerichtig, hinzu, das Thema >Tochter< sei für den Vater höchst schmerzlich, und es sei daher denkbar, daß er sie überhaupt nie besuchen werde. Ich solle mich geehrt fühlen, einem geheimen Helden der Sowjetunion einen so wichtigen Dienst erweisen zu dürfen. Er wurde scharf. Er sagte, es stehe mir nicht zu, das Verfahren von Fachleuten mit der Logik eines Amateurs zu messen. Ich entschuldigte mich. Ich sagte, daß ich mich in der Tat geehrt fühle. Daß ich stolz darauf sei, meinen Beitrag im Kampf gegen den Imperialismus zu leisten.«
»Aber sie sagten es ohne innere Überzeugung?« mutmaßte Smiley, blickte abermals auf und hielt mit Schreiben inne.
»Ja, das stimmt.«
»Warum?«
Zunächst schien Grigoriew nicht recht zu wissen, warum. Vielleicht hatte ihn noch nie jemand aufgefordert, die Wahrheit über seine Gefühle zu äußern.
»Vielleicht, weil Sie dem Priester
nicht
»Die Geschichte enthielt viele Widersprüchlichkeiten«, antwortete Grigoriew stirnrunzelnd. »Zweifellos ist das in der Geheimarbeit unvermeidlich. Dennoch empfand ich vieles als unwahrscheinlich oder unwahr.«
»Können Sie erklären, warum?«
In der Katharsis des Bekennens vergaß Grigoriew erneut, in welcher Gefahr er schwebte, und lächelte überlegen.