»Denn schließlich«, sagte der Priester, »falls imperialistische Spione melden sollten, daß die Ostrakowa, Ehefrau eines Deserteurs und Abtrünnigen, in Moskau in guten Verhältnissen lebe-zum Beispiel die Bezüge ihres Mannes weiterhin erhalte oder noch dieselbe Wohnung innehabe-, stellen Sie sich vor, wie sich das auf Ostrakows Glaubwürdigkeit auswirken würde!«
Grigoriew sagte, das könne er sich gut vorstellen. Der Priester, fügte er beiläufig hinzu, habe in keiner Weise die Autorität herausgekehrt, er habe vielmehr Grigoriew eher wie seinesgleichen behandelt, zweifellos mit Rücksicht auf dessen akademische Qualifikation.
»Zweifellos«, sagte Smiley und machte sich eine Notiz.
Daher, habe der Priester ein wenig übergangslos gesagt, seien die Ostrakowa und ihre Tochter mit voller Billigung ihres Ehemannes in eine entlegene Provinz verbracht worden, wo sie ein eigenes Haus und andere Namen erhielten und sogar - bescheiden und selbstlos, wie sie seien - eine unerläßliche neue Legende. So, sagte der Priester, sehe die bittere Wirklichkeit jener Menschen aus, die sich für Sonderaufgaben zur Verfügung stellten. Und bedenken Sie, Grigoriew - habe er in eindringlichem Ton hinzugefügt -, bedenken Sie, welche Wirkung diese Entbehrungen und Ausflüchte, ganz zu schweigen von der Veränderung der Identität, auf ein empfindsames und vielleicht schon damals labiles Mädchen haben mochten: ein abwesender Vater, dessen Name sogar für immer aus ihrem Leben getilgt bleiben mußte! Eine Mutter, die, ehe man sie in Sicherheit brachte, die ganze Wucht der öffentlichen Schande zu ertragen hatte! Malen Sie sich selbst aus, beschwor der Priester ihn - Sie, als Vater -, welche Belastung dies alles für das junge und zarte Gemüt eines heranreifenden Mädchens bedeutete!
Überwältigt von diesem Wortschwall beeilte Grigoriew sich zu sagen, daß er, als Vater, sich diese Belastung unschwer ausmalen könne; und in diesem Moment ging Toby und vermutlich auch allen anderen Anwesenden auf, daß Grigoriew genau das war, was er zu sein behauptete: ein gutherziger und anständiger Mensch in den Fängen von Ereignissen, die sich seinem Verständnis und seiner Kontrolle entzogen.
Während der letzten Jahre, fuhr der Priester fort, und seine Stimme klang jetzt dumpf und bekümmert, sei das Mädchen Alexandra - oder Tatjana, wie sie sich selber nannte - in der Provinz, in der sie lebte, sittenlos und asozial geworden. Auf die Zwänge, denen ihre Situation sie unterwarf, habe sie mit verschiedenen kriminellen Handlungen reagiert, zu denen Brandstiftung und Ladendiebstahl zählten. Sie habe sich mit pseudointellektuellen Verbrechern und den denkbar übelsten anti-sozialistischen Elementen eingelassen. Sie habe sich hemmungslos Männern hingegeben, oft mehreren an einem Tag. Als sie die ersten Male festgenommen wurde, sei es dem Priester und seinen Leuten noch möglich gewesen, den Lauf der Gerechtigkeit aufzuhalten. Doch in der Folge mußte dieser Beistand aus Sicherheitsgründen eingestellt werden, und Alexandra sei wiederholt in staatliche psychiatrische Anstalten eingewiesen worden, die auf die Behandlung von erblichen sozialen Anpassungsschwierigkeiten spezialisiert waren - die negativen Resultate habe er bereits geschildert.
»Außerdem mußte sie mehrmals in gewöhnlichen Strafanstalten einsitzen«, sagte der Priester leise. Und, laut Grigoriew, beschloß er seine traurige Erzählung wie folgt: »Daher werden Sie, mein lieber Grigoriew, als Akademiker, als Vater, ohne weiteres begreifen, wie tragisch die immer betrüblicheren Nachrichten von seiner Tochter sich auf die Nützlichkeit unseres heldenhaften Agenten Ostrakow in seinem einsamen Pariser Exil auswirkten.« Wiederum habe ihn, Grigoriew, das ungewöhnliche Maß von Mitgefühl beeindruckt - er würde sogar von einem Gefühl unmittelbarer persönlicher Verantwortlichkeit sprechen -, das der Priester bei seinem Zuhörer zu wecken vermochte.
In unverändert dürrem Ton machte Smiley hier einen weiteren Einwurf.
»Und die Mutter ist jetzt
»Tot«, erwiderte Grigoriew. »Sie starb in der Provinz. Der Provinz, in die sie verbracht worden war. Natürlich wurde sie unter einem anderen Namen begraben. Nach dem, was er mir erzählte, starb sie an gebrochenem Herzen. Auch das bürdete dem heldenhaften Agenten des Priesters in Paris eine schwere Last auf«, fügte er hinzu. »Und den Behörden in Rußland ebenfalls.«
»Natürlich«, sagte Smiley, und seine Feierlichkeit übertrug sich auf die vier regungslosen Gestalten, die rings im Zimmer aufgestellt waren.