»Hier können wir nicht bleiben«, flüstert sie und zieht Björn mit sich.
Im Wald ist es noch dunkel, aber die Nacht weicht allmählich dem neuen Morgen. Gemeinsam gehen sie schnell wieder zum Ufer, diesmal allerdings weit südlich von dem Haus und der Party. So weit von ihrem Verfolger entfernt wie möglich.
Trotzdem wissen beide, dass sie Hilfe brauchen, ein Telefon auftreiben müssen.
Der Wald wird zum Wasser hin immer lichter, und sie laufen wieder los. Zwischen den Bäumen sehen sie ein Haus. Es ist etwa einen halben Kilometer entfernt, vielleicht auch weniger. Irgendwo in der Ferne donnert ein Hubschrauber vorbei.
Björn scheint schwindlig zu sein, und als sie sieht, wie er sich auf der Erde abstützt oder an Baumstämmen Halt sucht, packt sie die Angst, dass er womöglich nicht mehr weiterlaufen könnte.
Irgendwo hinter ihnen knackt ein Ast, als wäre er unter dem Gewicht eines Menschen gebrochen.
Penelope läuft so schnell sie kann durch den Wald.
Der Wald wird lichter, und sie sieht erneut das Haus, es ist nur noch hundert Meter entfernt. Das Licht in den Fenstern spiegelt sich im roten Lack eines geparkten Fords.
Ein aufgescheuchter Hase hoppelt davon, rennt über Moos und Gras.
Keuchend und verängstigt laufen sie zu dem Kiesweg.
Als sie stehen bleiben und sich umschauen, haben sie vor Anstrengung Stiche in den Waden. Sie gehen die Eingangstreppe hinauf, öffnen die unverschlossene Haustür und treten ein.
»Hallo? Wir brauchen Hilfe!«, ruft Penelope.
Nach dem heißen Vortag ist es warm im Haus. Björn humpelt, seine nackten Füße hinterlassen eine Blutspur im Flur.
Penelope eilt durch die Zimmer, aber das Haus ist leer. Die Bewohner übernachten nach der Party bestimmt bei ihren Nachbarn, überlegt sie, stellt sich, hinter dem Vorhang verborgen, ans Fenster und sieht hinaus. Sie wartet einen Moment, kann aber weder im Wald noch auf dem Rasen und der Auffahrt Bewegungen ausmachen. Vielleicht hat ihr Verfolger endlich ihre Spur verloren, vielleicht wartet er noch in der Nähe des anderen Hauses. Sie kehrt in den Flur zurück und sieht, dass Björn auf dem Boden sitzt und die Wunden an seinen Füßen untersucht.
»Du musst dir ein Paar Schuhe suchen«, sagt sie.
Er schaut mit leerem Blick zu ihr hoch, als verstünde er ihre Sprache nicht.
»Es ist noch nicht vorbei«, sagt sie. »Du musst was für deine Füße finden.«
Björn wühlt in dem Kleiderschrank im Flur, reißt Strandschuhe, Gummistiefel und alte Taschen heraus.
Penelope vermeidet alle Fenster, bewegt sich jedoch schnell, als sie nach einem Telefon Ausschau hält, sie sucht auf dem Flurtisch, in der Aktentasche auf der Couch, in der Schüssel auf dem Couchtisch und zwischen Schlüsseln und Papieren von der Wegegemeinschaft auf der Arbeitsfläche in der Küche.
Von draußen dringt ein Geräusch an ihr Ohr, und sie bleibt stehen und lauscht.
Vielleicht hat sie sich getäuscht.
Die ersten morgendlichen Sonnenstrahlen scheinen zum Fenster herein.
Geduckt huscht sie in das große Schlafzimmer, zieht die Schubladen einer Kommode heraus und sieht, dass zwischen der Unterwäsche ein gerahmtes Familienbild liegt. Eine Porträtaufnahme, in einem Fotoatelier entstanden, Mann und Frau und zwei Töchter im Teenageralter. Die anderen Schubladen sind leer. Penelope öffnet den Kleiderschrank, zieht die wenigen Kleidungsstücke von den Stahlbügeln, nimmt eine schwarze Kapuzenjacke mit, die für eine Fünfzehnjährige gedacht zu sein scheint, sowie einen Strickpullover.
Sie hört Wasser aus dem Hahn in der Küche laufen und eilt dorthin. Björn beugt sich über die Spüle und trinkt. Seine Füße stecken in einem Paar ausgelatschter Turnschuhe, die ihm ein wenig zu groß sind.
Wir müssen jemanden finden, der uns helfen kann, denkt sie. Das gibt es ja gar nicht, hier müssen doch überall Menschen sein.
Als Penelope zu Björn geht und ihm den Strickpullover gibt, klopft es an die Tür. Björn lächelt überrascht, zieht den Pullover über und murmelt, dass sie anscheinend endlich mal ein bisschen Glück haben. Penelope geht Richtung Flur und streicht sich die Haare aus dem Gesicht. Sie ist fast an der Tür, als sie durch die Milchglasscheibe die Silhouette sieht.
Sie bleibt abrupt stehen und betrachtet den Schatten durch die trübe Glasscheibe. Sie erkennt seine Körperhaltung, die Form von Kopf und Schultern.
Ihr bleibt die Luft weg.
Langsam weicht sie rückwärts zur Küche zurück, es zuckt in ihr, sie würde gerne losrennen, ihr Körper will laufen. Sie starrt die Glasscheibe an, das verschwommene Gesicht, das schmale Kinn. Ihr ist schwindlig, sie bewegt sich nach hinten, tritt auf Taschen und Stiefel und streckt die Hand aus, um sich an der Wand abzustützen. Ihre Finger gleiten über die Tapete und stoßen an den Spiegel, sodass er schief hängt.
Björn stellt sich neben sie, er hält ein Küchenmesser in der Hand, ein Tranchiermesser mit breiter Klinge. Seine Wangen sind bleich, der Mund steht halb offen, seine Augen starren auf die Glasscheibe.