»Ein guter Gedanke«, unterbricht der Professor ihn. »Der französische Wissenschaftler Mersenne veröffentlichte 1636 die ›Harmonie Universelle‹. In diesem Werk erwähnt er, dass die besten Geiger bis zu einer Oktave über jeder Saite spielen können. Das bedeutet, der Tonumfang reicht vom tiefen G bis zum dreigestrichenen E … was uns insgesamt vierunddreißig Töne in einer chromatischen Tonleiter beschert.«
»Vierunddreißig Töne«, wiederholt Joona.
»Aber wenn wir über Musiker in etwas modernerer Zeit sprechen«, fährt Samuelsson fort, »hat sich der Umfang dem neuen Fingersatz folgend erweitert … und man rechnet fortan damit, das dreigestrichene A zu erreichen und damit eine chromatische Tonleiter mit neununddreißig Tönen zu bekommen.«
»Sprechen Sie weiter«, sagt Joona und sieht, wie Disa vor einer Galerie mit einigen seltsamen, verwischten Bildern stehen bleibt.
»Aber schon seitdem Richard Strauss Berlioz’ Instrumentenlehre von 1904 revidierte, wird das viergestrichene G als höchstmöglicher Ton für einen Orchestergeiger angegeben, was neunundvierzig Tönen entspricht.«
Angesichts von Joonas abwartendem Schweigen lacht Kaj Samuelsson in sich hinein.
»Die obere Grenze ist bei Weitem noch nicht erreicht«, erläutert der Professor. »Außerdem kann man ein ganzes Register von Flageoletttönen und Vierteltönen hinzufügen.«
Sie kommen an einem neu gebauten Wikingerschiff am Schlosskai vorbei und nähern sich dem Park Kungsträdgården.
»Und bei einem Cello?«, unterbricht Joona ungeduldig.
»Achtundfünfzig«, antwortet der Professor.
Disa wirft ihm einen ungeduldigen Blick zu und zeigt auf ein Straßencafé.
»Eigentlich lautet meine Frage, ob Sie sich ein Foto von vier Musikern, zwei Geigen, eine Bratsche und ein Cello, ansehen könnten«, sagt Joona. »Wäre es anhand einer scharfen Fotografie möglich, nur dadurch, dass man die Finger der Musiker, die Saiten und die Instrumentenhälse betrachtet, zu erraten, welches Stück sie spielen?«
Joona hört Kaj Samuelsson im Hörer vor sich hinmurmeln.
»Das ergibt eine Unmenge von Möglichkeiten, Tausende …«
Disa zuckt mit den Schultern und geht weiter, ohne ihn anzusehen.
»Sieben Millionen denkbare Kombinationen«, sagt Kaj Samuelsson nach einer Weile.
»Sieben Millionen«, wiederholt Joona.
Es wird erneut still am Telefon.
»Aber auf meinem Foto«, sagt Joona, »sind die Finger und die Saiten deutlich zu sehen, und man könnte ziemlich leicht viele Möglichkeiten ausschließen.«
»Ich sehe mir das Bild gerne an«, antwortet der Professor. »Aber ich werde die Töne nicht erraten können, das geht nicht und …«
»Aber …«
»Und stellen Sie sich bitte vor, Joona Linna«, fährt er fort, »stellen Sie sich vor, Sie würden tatsächlich die Töne annähernd bestimmen können … wie wollen sie diese unter all den tausend Streichquartetten finden, Beethoven, Schubert, Mozart …«
»Ich verstehe, es ist also unmöglich«, unterbricht Joona ihn.
»Um ehrlich zu sein, ja«, bestätigt Kaj Samuelsson.
Joona bedankt sich für das Gespräch und setzt sich neben Disa, die auf dem gemauerten Rand eines Brunnens wartet. Sie lehnt sich mit der Wange an seine Schulter. Als er den Arm um sie legt, fallen ihm im selben Moment die Worte Robert Riessens über seinen Bruder ein: »Wenn nicht einmal Axel es erkennen konnte, halte ich es für unmöglich.«
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72
Als Joona Linna mit schnellen Schritten den Bragevägen hinaufgeht, dringt aus der Deutschen Schule das Lachen und Johlen von Kindern zu ihm heraus.
Er klingelt an Axel Riessens Tür und hört leise die Töne einer wohlklingenden Glocke im Inneren des Hauses. Nachdem er einen Moment gewartet hat, beschließt er, um das Haus herumzugehen. Plötzlich hört er einen kreischenden Misston auf einem Streichinstrument. Jemand befindet sich im Schatten unter einem Laubbaum. Joona bleibt in einiger Entfernung stehen. Auf den Marmorplatten der Terrasse steht ein Mädchen mit einer Geige. Sie ist ungefähr fünfzehn Jahre alt. Ihre Haare sind sehr kurz, und sie hat auf ihren Armen gezeichnet. Neben ihr steht Axel Riessen, der nickt und neugierig zuhört, als sie den Bogen über die Saiten zieht. Es sieht aus, als würde sie das Instrument zum ersten Mal in der Hand halten. Vielleicht ist es Axel Riessens Tochter, oder ein Enkelkind, denn er sieht sie unablässig warmherzig und neugierig an.
Der Bogen streicht mit einem schlurfenden, quietschenden Laut schräg über die Saiten.
»Sie ist bestimmt ganz verstimmt«, schlägt das Mädchen als Erklärung für den schiefen Ton vor.
Sie lächelt und gibt das Instrument behutsam zurück.
»Wenn man Geige spielt, geht es ums Gehör«, sagt Axel freundlich. »Man lauscht, hört die Musik in sich und überführt sie anschließend in die Wirklichkeit.«
Er setzt die Geige an und spielt die Anfangsmelodie von »La seguidilla« aus Bizets Oper »Carmen«, hält inne und zeigt ihr die Geige.
»Jetzt stimme ich die Saiten mal so, mal so um«, sagt er und dreht die Wirbel viele Male in verschiedene Richtungen.
»Warum willst …«