»Es reicht aber nicht, Flint!« seufzte Laurana. »Ja, sicher, wir können die Drachenarmee vielleicht eine Woche oder zwei abwehren, vielleicht sogar einen Monat. Aber was dann? Was geschieht mit uns, wenn sie das Land um uns kontrollieren? Alles, was wir gegen die Drachen tun können, ist, uns selbst an sicheren kleinen Zufluchtsorten zu verbarrikadieren. Aber dann wird diese Welt nichts anderes sein als winzige Inseln des Lichts, umgeben von riesigen Ozeanen der Dunkelheit. Und dann wird uns alle die Dunkelheit Schritt für Schritt verschlingen.«
»Wann hast du das letzte Mal geschlafen?« fragte Flint plötzlich streng.
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie. »Mein Wachsein und Schlafen scheinen ineinander überzugehen. Die Hälfte der Zeit gehe ich in einem Traum, und die andere Hälfte schlafe ich durch die Wirklichkeit.«
»Dann schlaf jetzt«, sagte der Zwerg mit einer Stimme, die Tolpan als seine Großvaterstimme bezeichnete. »Wir gehen auch schlafen. Unsere Wache ist fast zu Ende.«
»Ich kann nicht«, sagte Laurana, während sie sich die Augen rieb. Der Gedanke an Schlaf ließ ihr plötzlich bewußt werden, wie erschöpft sie eigentlich war. »Ich wollte euch sagen, daß wir Berichte erhalten haben, daß Drachen gesichtet wurden, die weiter westlich über die Stadt Kalaman geflogen sind.«
»Dann steuern sie also in unsere Richtung«, sagte Tolpan, der in seinem Kopf eine Landkarte entwarf.
»Von wem sind diese Berichte?« fragte der Zwerg argwöhnisch.
»Die Greife. Jetzt knurr nicht darüber.« Laurana lächelte leicht über den Anblick des angewiderten Zwergs. »Die Greife sind uns eine große Hilfe. Auch wenn die Elfen nicht mehr als ihre Greife gegen diesen Krieg beisteuern, dann haben sie trotzdem eine Menge getan.«
»Greife sind dumme Tiere«, stellte Flint klar. »Ich traue ihnen genauso wenig, wie ich Kendern traue. Außerdem«, fuhr der Zwerg fort und ignorierte Tolpans beleidigten Blick, »macht es keinen Sinn. Die Drachenfürsten schicken keine Drachen zum Angriff ohne Armeen im Gefolge…«
»Vielleicht sind die Armeen gar nicht so unorganisiert, wie wir gehört haben.« Laurana seufzte müde. »Oder vielleicht hat man die Drachen geschickt, damit sie ihre Wut auslassen, Chaos verursachen, die Stadt demoralisieren, das umgebende Land in Schutt und Asche legen. Ich weiß es nicht. Schaut mal, die Nachricht hat sich herumgesprochen!«
Flint blickte sich um. Jene Soldaten, die dienstfrei hatten, standen immer noch an ihren Plätzen und starrten nach Osten zu den Bergen. Sie unterhielten sich mit leisen Stimmen; andere gesellten sich zu ihnen, die gerade erwacht waren und die Neuigkeiten erfuhren.
»Das habe ich befürchtet.« Laurana seufzte. »Das wird eine Panik auslösen! Ich habe Amothud gebeten, die Nachricht geheimzuhalten, aber die Palanthianer sind nicht daran gewöhnt, etwas geheimzuhalten! Schaut, was habe ich euch gesagt?«
Als sie von der Mauer hinuntersahen, konnten die Freunde beobachten, wie sich die Straßen mit Leuten – halbangezogen, verschlafen, verängstigt – füllten. Laurana konnte sich vorstellen, wie sich die Gerüchte verbreiteten, als die Palanthianer von Haus zu Haus liefen.
Sie biß sich auf die Lippen, ihre grünen Augen flackerten vor Wut. »Jetzt muß ich Männer von den Mauern abziehen, damit sie diese Leute in ihre Häuser schaffen. Ich kann sie nicht auf den Straßen lassen, wenn die Drachen angreifen! Ihr Männer, folgt mir!« Sie machte einer in der Nähe stehenden Gruppe von Soldaten Zeichen und eilte davon. Flint und Tolpan sahen ihr nach, als sie die Treppen hinunter – und auf den Palast des Herrschers zulief. Bald sahen sie bewaffnete Patrouillen durch die Straßen ziehen, die versuchten, die Leute in ihre Häuser zu treiben und die aufkommende Panik zu unterdrücken.
»Das bringt es auch!« knurrte Flint, denn die Straßen füllten sich noch mehr.
Tolpan, der auf einem Steinblock stand und über die Mauer starrte, schüttelte den Kopf. »Es spielt keine Rolle mehr!« flüsterte er verzweifelt. »Flint, schau…«
Der Zwerg kletterte eilig zu seinem Freund hoch. Männer schrien und griffen nach Bogen und Speeren. Hier und dort konnte man die mit Widerhaken versehenen silbernen Spitzen einer Drachenlanze sehen, die im Fackellicht aufblitzte.
»Wie viele?« fragte Flint mit einem schrägen Seitenblick.
»Zehn«, antwortete Tolpan leise. »Zwei Scharen. Große Drachen. Vielleicht die roten, die wir in Tarsis gesehen haben. Ich kann ihre Farbe nicht erkennen, aber ich kann Reiter auf ihnen sehen. Vielleicht ein Drachenfürst. Vielleicht Kitiara… Donnerwetter«, sagte Tolpan, von einem plötzlichen Einfall überrascht. »Ich hoffe, daß ich dieses Mal mit ihr sprechen kann. Es muß interessant sein, ein Drachenfürst zu sein…«