»Ich habe es nicht geglaubt«, sagte Flußwind ehrfürchtig und schüttelte den Kopf. »William hat uns davon erzählt, und ich habe zugehört, so wie ich seinen Geschichten über Meerdrachen zugehört habe, die Schiffe und Frauen verschlingen und Fischflossen anstelle von Beinen haben. Aber das…« Der Barbar schüttelte den Kopf und betrachtete unbehaglich das blutfarbene Wasser.
»Glaubst du, daß dies hier wirklich das Blut all jener ist, die in Istar gestorben sind, als das feurige Gebirge den Tempel des Königspriesters zerstörte?« fragte Goldmond, die sich zu ihrem Gatten gesellt hatte.
»Was für ein Unsinn!« knurrte Maquesta, während sie auf die Gefährten zuging.
»Ihr habt dem Schweinsgesicht William zugehört!« lachte sie.
»Er ängstigt gern Landratten. Das Wasser hat seine Farbe von der ausgewaschenen Erde. Vergeßt nicht, der Meeresboden hier besteht nicht aus Sand. Hier war einst Festland – die Hauptstadt von Istar und das umgebende fruchtbare Gebiet. Als das Feuergebirge herabfiel, wurde das Land gespalten. Der Ozean stürzte in diese Spalte und schuf ein neues Meer. Jetzt liegt der Reichtum von Istar tief unter den Wellen begraben.«
Maquesta starrte mit verträumten Augen über die Reling, als ob sie das unruhige Wasser durchdringen und den sagenhaften Reichtum der verlorenen Stadt sehen könnte. Sie seufzte sehnsüchtig auf. Goldmond warf der dunkelhäutigen Kapitänin einen verächtlichen Blick zu, in ihren Augen standen Traurigkeit und Entsetzen bei dem Gedanken an die furchtbare Zerstörung und die unzähligen Todesopfer.
»Warum wird die Erde so aufgewühlt?« fragte Flußwind stirnrunzelnd. »Selbst bei der Bewegung der Wellen und den Gezeiten müßte die schwere Erde doch zur Ruhe kommen.«
»Da hast du recht, Barbar.« Maquesta musterte den hochgewachsenen, gutaussehenden Mann von den Ebenen mit Bewunderung. »Aber soviel mir bekannt ist, seid ihr Barbaren Bauern und wißt eine Menge über den Erdboden. Wenn du deine Hand in das Wasser tauchst, kannst du die groben Erdkörner fühlen. Es heißt, daß im Blutmeer ein Mahlstrom die Erde mit gewaltiger Kraft aufwirbelt. Aber ich kann nicht sagen, ob es stimmt oder ob es nur eine der vielen Geschichten von Schweinsgesicht ist.
»Wie kommen wir dann nach Mitras?« murrte Tanis. »Es hegt auf der anderen Seite des Blutmeeres, wenn deine Berechnungen stimmen.«
»Wir können Mitras erreichen, indem wir in südlicher Richtung fahren, falls wir verfolgt werden. Wenn nicht, dann können wir den westlichen Rand des Meeres umkreisen und auf die nördliche Küste vom Nordmeer zuhalten. Mach dir keine Sorgen, Halb-Elf. Zumindest kannst du sagen, daß du das Blutmeer gesehen hast. Eines der Wunder auf Krynn.«
Maquesta drehte sich um, um nach hinten zu gehen, als sie vom Ausguck gerufen wurde.
»Schiff von Westen!« schrie der Matrose.
Sofort holten Maquesta und Koraf ihre Ferngläser hervor und richteten sie auf den westlichen Horizont. Die Gefährten wechselten besorgte Blicke und versammelten sich. Sogar Raistlin verließ seinen Platz unter dem schützenden Segel und trat zu ihnen, während er mit seinen goldenen Augen in den Westen starrte.
»Ein Schiff?« fragte Maquesta Koraf.
»Nein«, grunzte der Minotaurus. »Eine Wolke vielleicht. Aber sie ist schnell, sehr schnell. Schneller, als ich je eine gesehen habe.«
Jetzt konnten sie alle die dunklen Flecken am Horizont erkennen, Flecken, die beim Beobachten immer größer wurden. Dann spürte Tanis einen heftigen Schmerz, als wäre er von einem Schwert durchbohrt worden. Der Schmerz kam so schnell und unerwartet, daß er aufkeuchte und sich an Caramon klammerte. Die anderen sahen ihn besorgt an, und Caramon legte seinen kräftigen Arm um seinen Freund.
Tanis wußte, was auf sie zuflog.
Und er wußte, wer es anführte.
3
Die Dunkelheit nimmt zu
»Eine Drachenschar«, sagte Raistlin, der nun neben seinem Bruder stand. »Fünf, glaube ich.«
»Drachen!« keuchte Maquesta. Einen Moment lang klammerte sie sich mit zitternden Händen an die Reling, dann wirbelte sie herum. »Alle Segel setzen!« befahl sie.
Die Mannschaft starrte nach Westen, ihre Augen und ihr Denken waren von dem nahenden Entsetzen gebannt. Maquesta hob ihre Stimme und schrie nochmals ihren Befehl; ihr einziger Gedanke galt ihrem geliebten Schiff. Die Kraft und Ruhe in ihrer Stimme durchbrach die ersten schwachen Anzeichen der Drachenangst, die über die Mannschaft kroch. Einige sprangen automatisch auf, um ihren Befehl auszuführen, dann folgten die anderen. Koraf half mit seiner Peitsche nach und schlug jeden Mann, der sich nicht schnell genug bewegte. Innerhalb von Sekunden blähten sich die Segel auf.