Die Reise nach Boston war während der letzten Tage ein allabendlicher Zankapfel zwischen Krista und ihm gewesen. Krista wollte am Sonntag losfahren, bei ihrer Schwester Klara am Saint Lawrence übernachten und dann am frühen Montagmorgen nach Boston weiterfahren, um eine Woche bei ihrer Halbschwester Caroline zu verbringen. Krista wünschte sich, dass Scott sie begleitete, aber wie die meisten Dinge hatte sie auch diese Spritztour einer spontanen Eingebung folgend geplant. Die nächste Woche eignete sich für Scott denkbar schlecht. Er steckte bis zum Hals in Arbeit, die er nicht einfach liegen lassen konnte.
»Es ist doch nicht etwa deshalb, weil dich Caroline in jeder Diskussion schlägt, oder?«
Scott lachte in sich hinein. »Es ist verdammt schwer, sich in einer Auseinandersetzung gegen jemanden zu behaupten, der immer Recht hat, so viel ist klar.«
Caroline, die ein paar Jahre älter war als Scott, hatte es zu einem Doktortitel in Sozialer Anthropologie und einer vollen Professorenstelle am Pine Manor College gebracht, einer Hochschule für reiche höhere Töchter in Cambridge, nahe Harvard. Sie hatte in den Sechzigerjahren in Berkeley promoviert und war durch und durch von diesem radikalisierten Umfeld geprägt. Voller Stolz hatte sie sogar ein gerahmtes Foto auf dem Kaminsims zur Schau gestellt, das zeigte, wie sie während einer Uni-Revolte den Einsatztruppen der Polizei den Mittelfinger entgegenstreckte. Caroline war eine engagierte Feministin und nahm — auch wenn sie ein gutmütiger und großzügiger Mensch war — oft Anstoß an Scotts eher traditionellen Ansichten über die Beziehungen zwischen Männern und Frauen. Sie war neun Jahre vor Krista geboren und der einzige Nachwuchs aus der ersten Ehe ihrer gemeinsamen Mutter. Sie und Krista standen sich wirklich sehr nah, und Scott musste sich vorsehen mit dem, was er über sie sagte. Aber abgesehen von dem, was er als Carolines »dogmatischen Zug« betrachtete, mochte er sie sehr gern.
»Aber nein, Caroline ist nicht der Grund. Jedenfalls nicht dieses Mal. Ich hab nächste Woche den Arsch voll zu tun mit diesem ganzen administrativen Mist, alles Sachen, vor denen ich mich einfach nicht drücken kann. Traurig, aber wahr.« Wenn es in seiner Ehe überhaupt ein Problem gab, überlegte Scott in der kurzen Gesprächspause, dann dieses: Krista fand, dass er zu viel Zeit bei der Arbeit und zu wenig Zeit zu Hause, bei seiner Familie, verbrachte. Es war die alte Leier, eine, mit der die meisten Arzte zu leben lernten - oft als Geschiedene. Die wenigen wirklich schlimmen Auseinandersetzungen, die Krista und er im Laufe ihres Zusammenlebens ausgetragen hatten, waren fast immer um dieses Thema gekreist. Ein- oder zweimal hatte sich daraus sogar ein wirklich hässlicher Streit entwickelt. Den letzten großen Krach hatten sie vor gar nicht allzu langer Zeit gehabt, kurz nachdem sie das Haus am See gekauft hatten.
Mit dem Verkauf ihres Hauses in Ottawa hatten sie einen riesigen Reibach gemacht: Der Wert war in den acht Jahren, in denen es ihnen gehört hatte, um mehr als das Doppelte gestiegen. Und auch mit dem Grundstück am See hatten sie ein gutes Geschäft gemacht. Die Künstlerin, der es gehörte, hatte es mit dem Verkauf eilig gehabt, da sie das Geld so schnell wie möglich benötigte. Kristas Schlussfolgerung war ganz einfach: Warum sollte Scott weiterhin so hart arbeiten, wenn er sich jetzt eigentlich auch zur Ruhe setzen konnte? (Zwar würden sie dann, wohlgemerkt, nicht gerade luxuriös leben können, aber durchaus angenehm und immer noch genügend Geld übrig haben, um ihrem Kind die beste Ausbildung zu sichern.) Warum sollte er sich so kaputtmachen, wenn er doch wegen der Arbeit in den Ausschüssen und dieser administrativen, Zeit verschwendenden Projekte sowieso ständig herummeckerte? Sie erwarte, sagte sie, von ihm natürlich nicht, dass er sich jetzt schon völlig zur Ruhe setze, könne aber nicht einsehen, warum er sich nicht wenigstens die Abende und Wochenenden freihalten könne. Schließlich sei er doch Psychiater und kein Herzchirurg, verdammt noch mal!
Als er, um sich selbst zu verteidigen, das Thema in fieser Weise auf Kristas teuren Geschmack gelenkt hatte, war ein wirklich hässlicher Streit entbrannt. Zumindest konnte ihm keiner nachsagen, dass er in seiner Ehe irgendwelche psychologischen Winkelzüge anwendete. Wenn er sich stritt, geschah es aus dem Bauch heraus.
»Ich vermute, du hältst mich auch schon für einen alten, langweiligen Zwangsneurotiker«, beendete Scott die Gesprächspause.
Gerry lachte: »Ich finde, du bist ein Arschloch ... aber das netteste Arschloch, das mir jemals über den Weg gelaufen ist.« Scott strahlte. »Hör mal, ich war heute bei euch drüben und hab dir ein Geschenk dagelassen, aber du musst es suchen gehen. Ich hab es hinter einem losen Stein im Kamin oben bei euch versteckt.«
Scotts Neugier war im Nu geweckt. Er liebte Überraschungen - jedenfalls die erfreulichen. Der Kamin war im Eltern-Schlafzimmer, aber Scott waren dort noch nie lose Steine aufgefallen.