Natürlich war es ein Wels! Hundert Kilo, vielleicht zweihundert wog der, schätzt Edin auf dem Weg zur Schule und breitet die Arme aus, als wollte er jemanden umarmen: so groß muss der gewesen sein, mindestens!
Ich kenne mich mit Welsen aus und glaube Edin kein Wort. Die Schnur kann auch mal reißen, wenn sich der Haken irgendwo am Grund verfängt, und außerdem sind die Welse unbescheidene Fische, sie geben sich nicht ab mit dem kleinen Rzav. Zwei Döbel haben wir gefangen, und wer rührt eigentlich so in den Wolken herum? – bis auf die Haut sind wir vom Regen durchnässt.
Unter Vordächern Soldaten, hinter Sandsäcken Soldaten, in Kneipen Soldaten – Wirte und Gäste zugleich. Am größten Kaufhaus der Stadt fragen wir: dürfen wir da rein? Der Soldat steigt aus dem Schaufenster, sagt: auf Scherben aufpassen, und schnallt den Fernseher auf den Beifahrersitz. Wir meiden die Glassplitter, obwohl sie herrlich knirschen. Soldaten, Edin und ich kaufen ein. Wir nehmen so viele Stifte und Hefte mit, wie wir tragen können. Als wir in der Schule ankommen, ist alles nass. Das aufgeweichte Papier stapeln wir auf der Heizung, aber was macht man mit fünfhundert Anspitzern ? So wie die Schule aussieht, werden wir sie niemals wieder brauchen. Mit den Anspitzern legen wir eine Spur in den dunklen Gängen, über Glassplitter und Schutt, durch verwüstete Klassenräume. Im Lehrerzimmer ist kein Fenster mehr heil, vor den Fensteröffnungen Tischtürme und Stuhlbeingeflechte und zehntausend leere Patronenhülsen zwischen hunderttausend Splittern. Unsere Anspitzerspur trifft auf eine Blutspur. Edin und ich folgen ihr bis zu einem großen Fenster und sehen auf die Stadt unter dem donnerlosen Regen. Mitten im Raum ein Berg aus zerfledderten Klassenbüchern – die roten Einbände. Manche fragten nach dem Alphabet ab, andere schlugen eine zufällige Seite auf.
Nachsehen, wie wir mündlich in Russisch stehen?, frage ich, aber auf der Bergkuppe liegt ein riesiger Haufen eingetrockneter Scheiße, über dem zwei Fliegen ihre Rechtecke ziehen, und wir geben uns mit der Vier schriftlich zufrieden.
Sag mal, Edin, warum haben die den Hund so abgeschossen ?
Edin zuckt mit den Schultern, hebt einige Patronenhülsen auf und schmeißt sie einzeln durch das Fenster. Im Sommer, sagt er, habe ich unten ein Tor auf die Fassade gemalt. Mit roter Kreide, auf Zehenspitzen. Zwei Mal musste ich den Arm absetzen und durchschütteln, so hoch war die Latte. Ich war gerade fertig, da kam Hausmeister Kostina raus und fragte: was das denn werden soll. Ich: Na, ein Tor. Er: Abwischen, Nachsitzen.
Kein einziges Mal draufgehalten?, frage ich.
Kein einziges Mal, sagt Edin und entkeilt ein paar Stühle, hätte ja ein Fenster kaputtgehen können.
Im Labor kniet Fizo, unser Physiklehrer, vor einem weiteren Teppich aus Scherben und sagt, als wir uns neben ihn hocken: der Unterricht findet statt, wir müssen nur aufräumen. Ich habe drei heile Messbecher gefunden und zwei Brenner. Eure Lochkameras sind bis auf zwei alle kaputt, das Federpendel ist ganz, die meisten Glühbirnen nicht. Zieht euch Handschuhe an und passt mit dem Glas auf. Alles Blutbefleckte liegen lassen.
Das Meiste wird liegen gelassen. Fizo nimmt seine Brille ab, kramt ein Tuch aus der Hemdtasche, wischt sich über die Augen, dann über die Gläser. Edin findet eine unversehrte Pipette, hält sie hoch, ruft: gut-gut-gut, und lacht. Fizo nickt, ja, gut, und holt den Besen. Gleich machen wir weiter, habt ihr eure Hefte dabei? Gleich, gleich, ich möchte euch einige Formeln diktieren. Danach dürft ihr nach Hause gehen, gut?
Im Labor ist nichts mehr an seinem Platz. Tito über der Tafel ist es. Unter meinen Sohlen knirscht es lauter, je leiser ich auftreten möchte. Titos weiße Admiralsuniform. Titos Schäferhund. Titos rechtes Auge: ein Einschussloch. Tito ist schon wieder gestorben, zum vierten Mal. Diesmal wurde er erschossen.
Platte Symbolik, sagt Fizo.
Unter Titos einäugigem Leichnam kann ich in einer Schule, die keine Schule mehr ist, oder nur Fizos Schule ist und die Schule seines Widerstands, seiner Stromarbeit, seiner Stromleistung, nichts mehr wirklich wichtig nehmen. »Symbolik« werde ich später zwar nachschlagen, aber nur, weil mich das Wort wütend macht. Ich will wissen, ob Einäugige lieber links oder rechts blind wären und will wissen, wie viel Blut wir wirklich haben und will wissen, ob jeder Schuss in den Hals tödlich ist. Ich will wissen, wie viele Tode Tito noch hat.
Nichts im Labor ist an seinem Platz. Ich stehe da.
Krsmanović, ruft Fizo, möchtest du uns nicht helfen?
Genosse Jelenić, ich weiß nicht, wie.
Ich wische die Tafel mit dem trockenen Schwamm. Wäre ich Fähigkeitenzauberer, könnte Glas selbst entscheiden, ob es zerbricht, und Fizo, der strengste Lehrer der Schule, sagt: gut.