Das Streichholz war ausgegangen, und ehe er ein neues anzündete, zog er die Vorhänge zurück, doch nicht auf der Landseite. Er wollte nicht, daß der Alte hereinschaute. Im grauen, schräg einfallenden Licht wirkte Leipzig so lächerlich wie sein winziges Konterfei auf dem Foto, das Herr Kretzschmar aufgenommen hatte. Er lag da, wo sie ihn gefesselt hatten, nackt, doch ohne Mädchen und ohne Kirow. Das kantige Toulouse-Lautrec-Gesicht, grün und blau geschlagen und mit Seilenden geknebelt, war im Tod so zerklüftet und ausdrucksvoll, wie Smiley es vom Leben her in Erinnerung hatte. Die Musik hatte vermutlich den Lärm übertönen sollen, während sie ihn folterten. Doch die Musik allein dürfte wohl dazu nicht ausgereicht haben. Er starrte unverwandt auf das Radio, wie auf einen Bezugspunkt, ein Ding, auf das man mit Ohren und Augen zurückkommen konnte, wenn der Anblick der Leiche unerträglich werden sollte, bevor das Streichholz ausging. Japanisch, bemerkte er. Merkwürdig, dachte er. Sich ganz auf diese Merkwürdigkeit konzentrieren. Wie merkwürdig, daß die technischen Deutschen japanische Radios kaufen. Er fragte sich, ob die Japaner das Kompliment wohl zurückgaben. Frag dich nur, ermunterte er sich grimmig. Richte dein ganzes Augenmerk auf das interessante Wirtschaftsproblem des Handelsaustausches zwischen hochindustrialisierten Ländern.
Ohne das Radio aus den Augen zu lassen, richtete er einen Klappstuhl auf und setzte sich darauf. Langsam wendete er den Blick wieder zu Leipzigs Gesicht. Manche Gesichter, ging es ihm durch den Kopf, nehmen im Tod ein stumpfsinniges, ja geradezu idiotisches Aussehen an, wie das eines Kranken unter Betäubung. Andere spiegeln eine einzige Stimmung ihrer vielschichtigen Natur wieder - der Tote als Liebhaber, als Vater, als Autofahrer, Bridgespieler, Tyrann. Und einige, wie das von Wladimir, spiegeln gar nichts wider. Doch Leipzigs Gesicht drückte, trotz des Knebels, eine Stimmung aus, und zwar Zorn, zur Wut gesteigert durch den Schmerz; Zorn, der angewachsen war und den ganzen Mann erfaßt hatte, als der Körper seine Kraft verlor.
Haß, hatte Connie gesagt.
Smiley sah methodisch um sich, dachte so langsam, wie er es irgend fertig brachte, versuchte, aus den Trümmern den Handlungsablauf zu rekonstruieren. Zuerst der Kampf, bevor sie ihn überwältigten, abzulesen an den zertrümmerten Tischbeinen und Stühlen und Lampen und Regalen und an allem anderen, was man irgendwo abreißen und zum Schlagen oder Schleudern verwenden konnte. Dann die Durchsuchung, nachdem sie ihn gefesselt hatten, während der Verhörpausen. Ihre Enttäuschung war überall deutlich sichtbar. Sie hatten Wand- und Fußbodenbretter herausgerissen, Schubladen, Kleider und Matratzen, und schließlich, als Otto Leipzig sich immer noch weigerte zu sprechen, alles, was sich auseinandernehmen ließ, bis auf winzigste Gegenstände. Er bemerkte Blut an den überraschendsten Stellen - im Waschbecken, über dem Herd. Der Gedanke, daß nicht alles von Otto Leipzig stammen könnte, bereitete ihm eine gewisse Genugtuung. Schließlich hatten sie ihn aus Verzweiflung umgebracht, denn so lauteten Karlas Befehle, das war Karlas Philosophie: Killen geht vor kirren, hatte Wladimir immer gesagt.
Vom Strand her hörte er eine Frau gellen:
»Was hat er gefunden? Hat er was gefunden? Wer ist er?«