»Sie haben sich gestritten, davon geht die Welt nicht unter.«
»Aber wie konnte ich nur so etwas sagen? Können Sie das verstehen?«, fragt sie und schlägt sich mit den Fingerknöcheln hart gegen die Stirn. »Wer sagt so etwas zu seinem eigenen Kind?«
»Es ist so leicht passiert …«
Joonas Stimme erstirbt, am Rücken bricht ihm der Schweiß aus, und er zwingt sich, die aufflackernden Erinnerungsfragmente zu verdrängen.
»Ich ertrage das nicht«, sagt Claudia Fernandez leise.
Joona nimmt ihre Hände und sagt, dass er alles tun wird, was in seiner Macht steht.
»Sie müssen Ihre Tochter zurückbekommen«, flüstert er.
Sie nickt, dann trennen sich ihre Wege.
Joona eilt die Bergsgatan hinab und blinzelt in den Himmel, während er zu seinem Auto geht. Im letzten Sommer saß er im Krankenhaus und hielt die Hand seiner Mutter. Sie unterhielten sich wie üblich auf Finnisch. Er sagte, dass sie zusammen nach Karelien fahren würden, sobald es ihr besser ginge. Sie war dort geboren, in einem kleinen Dorf, das im Gegensatz zu vielen anderen im Zweiten Weltkrieg nicht von den Russen niedergebrannt worden war. Seine Mutter hatte erwidert, es sei wohl besser, wenn er mit einem von denen nach Karelien fahren würde, die auf ihn warteten.
Im »Il Caffè« kauft Joona eine Flasche San Pellegrino und leert sie, noch ehe er sich in das heiße Auto setzt. Das Lenkrad glüht, und der Sitz brennt im Rücken. Statt zur Polizeihochschule zu fahren, kehrt er in die Sankt Paulsgatan 3 zurück, zur Wohnung von Penelope Fernandez. Er denkt an den Mann, dem er in ihrer Wohnung begegnet ist. Seine Bewegungen sind ungewöhnlich schnell und genau gewesen, so als wäre sein Messer lebendig gewesen.
Rund um den Hauseingang sind blaue und weiße Plastikbänder mit den Worten »Polizei« und »Absperrung« gespannt.
Joona weist sich vor dem uniformierten Polizisten aus und schüttelt ihm anschließend die Hand. Sie sind sich sporadisch begegnet, haben aber nie zusammengearbeitet.
»Heiß heute«, sagt Joona.
»Soll das ein Witz sein?«, erwidert der Beamte.
»Wie viele Techniker sind vor Ort?«, fragt er und nickt zum Treppenhaus hinauf.
»Einer von uns und drei vom Staatsschutz«, antwortet der Polizeibeamte. »Man will möglichst schnell DNA sichern.«
»Sie werden keine finden«, sagt Joona eher zu sich selbst und steigt die Treppe hinauf.
Vor der Wohnungstür im dritten Stock steht Melker Janos, ein älterer Polizist. Er gehörte zu Joonas Ausbildern und ist ihm als gestresster und unangenehmer Vorgesetzter in Erinnerung geblieben. Damals war Melker dabei, Karriere zu machen, aber eine Scheidung und zeitweiliger Alkoholismus führten dazu, dass er wieder zum Streifenpolizisten degradiert wurde. Als er Joona sieht, grüßt er kurz und gereizt und öffnet ihm mit ironisch unterwürfiger Geste die Tür.
»Danke«, sagt Joona, ohne eine Antwort zu erwarten.
Direkt hinter der Tür steht Tommy Kofoed, der kriminaltechnische Koordinator der Landesmordkommission. Kofoed wirkt mürrisch in seiner gebückten Haltung. Er reicht Joona gerade einmal bis zur Brust. Als sich ihre Blicke begegnen, öffnet er den Mund zu einem fast kindlich fröhlichen Lächeln.
»Joona, schön dich zu sehen. Wolltest du nicht zur Polizeihochschule?«
»Hab mich verfahren.«
»Gut so.«
»Habt ihr was gefunden?«, fragt Joona.
»Wir haben alle Schuhabdrücke im Flur gesichert«, sagt er.
»Tja, die passen bestimmt zu meinen Schuhen«, sagt Joona und gibt ihm die Hand.
»Und zu denen des Angreifers«, erklärt Kofoed und lächelt noch breiter. »Wir haben mehrere hübsche Abdrücke sichern können. Er hat sich verdammt komisch bewegt – nicht wahr?«
»Ja«, antwortet Joona kurz.
Im Flur liegen Trittplatten auf dem Fußboden, damit keine Spuren kontaminiert werden, ehe sie gesichert worden sind. Auf einem Stativ steht eine Kamera, deren Objektiv auf den Fußboden gerichtet ist. Eine lichtstarke Lampe mit Aluminiumschirm liegt noch in einer Ecke. Die Kriminaltechniker haben mithilfe von Streiflicht, das fast parallel zum Boden fällt, nach unsichtbaren Schuhabdrücken gesucht. Danach haben sie die Schuhabdrücke elektrostatisch abgenommen und die Schritte des Täters von der Küche durch den Flur markiert.
Eigentlich ist dieses exakte Vorgehen überflüssig, denkt Joona. Schuhe, Handschuhe und Kleider des Täters sind aller Wahrscheinlichkeit nach bereits vernichtet, wahrscheinlich verbrannt worden.
»Wie ist er eigentlich gelaufen?«, fragt Kofoed und zeigt auf die Markierungen. Da, da … schräg rüber … und dann gibt es nichts mehr bis hier und hier.«
»Du hast einen Abdruck übersehen«, sagt Joona grinsend.
»Nie im Leben.«
»Da«, zeigt Joona.
»Wo?«
»Auf der Wand.«
»Das gibt’s doch nicht.«
Etwa siebzig Zentimeter über dem Fußboden erkennt man auf der Tapete einen schwachen Schuhabdruck. Tommy Kofoed ruft einen anderen Techniker hinzu und bittet ihn, einen Gelatineabdruck zu sichern.
»Kann man jetzt über den Boden gehen?«, erkundigt sich Joona.
»Solange du nicht über die Wände gehst«, antwortet Kofoed.
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