Axel blickt auf das Display und sieht, dass der Empfang hervorragend ist, obwohl sie mitten auf dem Meer sind, die Jacht muss eine Satellitenverbindung haben.
»Keine Nachricht«, sagt er und legt das Telefon auf den Tisch zurück.
»Danke.«
Axel bleibt am Tisch stehen, während Peter langsam und immer unrhythmischer fortfährt, Caprice Nummer 24 zu spielen.
Peter ist alles andere als unbegabt und hat viel geübt, aber dieses Stück überfordert ihn. Trotzdem ist der Klang der Geige so wunderbar, dass Axel ihn selbst dann noch genossen hätte, wenn ein kleines Kind an den Saiten gezupft hätte. Er lehnt sich gegen den Tisch, lauscht und versucht erneut, an das Telefon heranzukommen. Peter versucht krampfhaft, die richtigen Stellen auf den Saiten zu finden, wird langsamer, bricht ab und setzt noch einmal an, während Axel das Telefon zu erreichen versucht. Er rückt langsam näher, kommt aber nicht heran. Peter spielt falsch, hört auf und wendet sich erneut Axel zu.
»Das ist schwer«, sagt er und macht einen weiteren Versuch.
Er fängt noch einmal an, verspielt sich aber wieder.
»Es geht nicht«, sagt er und lässt die Geige sinken.
»Wenn du den Ringfinger auf der A-Saite liegen lässt, ist es leichter, rechtzeitig mit …«
»Können Sie es mir nicht zeigen?«
Axel schaut auf das Telefon, das auf dem Tisch liegt. Ein Sonnenreflex blitzt auf, und Axels Augen richten sich auf die Fenster. Das Meer liegt seltsam glatt und leer. Es dröhnt aus dem Maschinenraum, ein unablässiges Stampfen, das er erst jetzt wahrnimmt.
Peter gibt ihm die Geige, und Axel legt sie an die Schulter, spannt den Bogen noch ein wenig und beginnt anschließend, das Stück zu spielen. Die fließende, wehmütige Einleitung strömt in einem schnellen Tempo in den Raum. Der Ton der Geige ist nicht kraftvoll, aber wunderbar sanft und rein. Paganinis Musik jagt sich selbst in immer schnelleren und höheren Pirouetten.
»Oh, mein Gott«, flüstert Peter.
Plötzlich ist der Rhythmus atemberaubend schnell, prestissimo. Die Musik ist spielerisch schön und gleichzeitig durchbrochen von abrupten Saitenwechseln und jähen Sprüngen zwischen den Oktaven.
Axel hat die ganze Musik in seinem Kopf und muss sie nur herauslassen. Nicht jeder Ton ist perfekt, aber seine Finger finden immer noch den Weg auf dem Geigenhals, laufen über Holz und Saiten.
Raphael Guidi ruft auf der Kommandobrücke, und dann fällt etwas so zu Boden, dass der Kronleuchter klirrt. Axel spielt weiter – die hellen, perlenden Läufe funkeln wie Sonnenlicht auf Meerwasser.
Plötzlich hört man Schritte auf der Treppe, und als Axel Raphael Guidi mit verschwitztem Gesicht und einem blutigen Militärmesser in der Hand sieht, hört er abrupt auf zu spielen. Der grauhaarige Leibwächter geht neben Guidi und hält ein gelbgrünes Sturmgewehr in den Händen, ein belgisches Fabrique Nationale SCAR.
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110
Joona Linna steht mit einem Fernglas neben Pasi Rannikko und dem Offizier mit dem blonden Bart. Sie überwachen die riesige Luxusjacht, die ruhig auf dem Meer liegt. Der Wind ist im Tagesverlauf abgeflaut. Die italienische Flagge hängt schlaff herab. Auf dem Schiff scheint es keine Aktivitäten zu geben. Es ist, als wären Besatzung und Passagiere in einen Dornröschenschlaf gefallen. Es herrscht Windstille auf der Ostsee, das Wasser spiegelt den weiten hellblauen Himmel. Immer seltener sorgt die langsame Dünung dafür, dass sich die glatte Fläche ein wenig hebt.
Plötzlich klingelt es in Joonas Tasche. Er reicht das Fernglas an Niko weiter, nimmt sein Handy und meldet sich.
»Wir haben eine Zeugin«, schreit Saga Bauer ins Telefon. »Das Mädchen ist unsere Zeugin, sie hat alles gesehen. Axel Riessen ist gekidnappt worden, der Staatsanwalt hat schon reagiert, ihr dürft an Bord gehen und nach ihm suchen!«
»Gute Arbeit«, sagt Joona angespannt.
Pasi Rannikko sieht ihn an, als er das Telefon zuklappt.
»Wir haben einen Haftbefehl gegen Raphael Guidi«, sagt Joona. »Er steht unter dem dringenden Tatverdacht der Freiheitsberaubung.«
»Ich nehme Kontakt zur FNS Hanko auf«, sagt Pasi Rannikko und eilt zum Funkgerät neben dem Steuer.
»Sie werden in zwanzig Minuten hier sein«, sagt Niko.
»Wir fordern Verstärkung an«, ruft Pasi Rannikko ins Mikrofon. »Uns liegt eine Anweisung der Staatsanwaltschaft vor, unverzüglich an Bord von Raphael Guidis Jacht zu gehen und ihn zu ergreifen … Ja, das ist korrekt … Ja … Beeilt euch! Kommt, so schnell ihr könnt!«
Joona blickt erneut durch das Fernglas, sieht die weiß lackierte Treppe achtern an der Plattform, schaut am unteren Deck vorbei und zum Achterdeck mit den geschlossenen Sonnenschirmen. Er versucht, etwas in den dunklen Fenstern des Speisesaals zu erkennen, aber sie sind einfach nur schwarz. Seine Augen folgen der Reling, die um das Schiff herumläuft, und schweifen dann zur nächsten Treppe, die zum großen Sonnendeck hinaufführt.