Raphael Guidi sitzt auf einer Couch, trägt dieselbe Jogginghose wie zuvor und ein weißes T-Shirt, das über seinem Bauch spannt. Er klopft auf den Platz neben sich, und Axel setzt sich zu ihm. Die beiden Leibwächter stehen hinter Guidi wie zwei Schatten. Keiner sagt etwas. Raphael Guidis Handy klingelt, er meldet sich und führt ein längeres Gespräch.
Kurz darauf kehrt der weiß gekleidete Mann mit einem Servierwagen zurück. Wortlos deckt er den flachen Kalksteintisch mit Tellern und Gläsern, einer großen Platte mit gebratenen Hamburgern, Brot und Pommes frites, einer Flasche Ketchup und einer großen Plastikflasche Pepsi Cola.
Raphael Guidi blickt nicht auf, setzt sein Telefonat einfach fort. Mit unbewegter Stimme diskutiert er zahlreiche Details zu Produktionsgeschwindigkeit und Logistik.
Keiner sagt etwas, alle warten geduldig.
Fünfzehn Minuten später beendet Guidi sein Gespräch, sieht Axel Riessen an und ergreift mit sanfter Ruhe das Wort.
»Möchten Sie vielleicht ein Glas Wein?«, sagt er. »In achtundvierzig Stunden können Sie eine neue Leber haben.«
»Ich habe mir die Informationen zum Spender mehrmals durchgelesen«, sagt Axel. »Perfekt, ich bin beeindruckt, alles passt …«
»Das mit unseren Wünschen ist interessant«, erwidert Guidi. »Ich meine, was man sich mehr als alles andere wünscht. Ich wünschte, meine Frau würde leben, damit wir zusammen sein könnten.«
»Das verstehe ich.«
»Aber für mich hängen die Wünsche auch mit ihrem Gegenteil zusammen«, erklärt der Waffenhändler.
Er nimmt sich einen Hamburger und ein Körbchen mit Pommes frites und reicht die Platte anschließend an Axel weiter.
»Danke.«
»Der Wunsch in der einen Waagschale wiegt den Albtraum in der anderen auf«, fährt Raphael Guidi fort.
»Den Albtraum?«
»Ich meine ja nur … wir gehen durchs Leben und tragen viele Extreme in uns, wir haben Wünsche, die niemals in Erfüllung gehen, und Albträume, die niemals wahr werden.«
»Mag sein«, entgegnet Axel und beißt in seinen Hamburger.
»Ihr Wunsch, wieder Schlaf zu finden, könnte ja durchaus in Erfüllung gehen, aber wie … Ich frage mich, wie Sie sich die andere Waagschale vorstellen, wie sieht Ihr schlimmster Albtraum aus?«
»Ich weiß es wirklich nicht«, antwortet Axel lächelnd.
»Wovor haben Sie Angst?«, will Guidi wissen und salzt seine Pommes frites.
»Vor Krankheit, dem Tod … und großem Schmerz.«
»Natürlich, Schmerz, da stimme ich Ihnen zu«, sagt Guidi. »Aber mir ist mit der Zeit klar geworden, dass es mir dabei um meinen Sohn geht. Er ist fast erwachsen, und ich fürchte mich in letzter Zeit davor, dass er sich von mir abwenden, aus meinem Leben verschwinden könnte.«
»Einsamkeit?«
»Ja, ich glaube schon«, sagt Guidi. »Völlige Einsamkeit ist wahrscheinlich mein Albtraum.«
»Ich bin schon einsam«, erwidert Axel lächelnd. »Das Schlimmste habe ich also schon hinter mir.«
»Sagen Sie das nicht«, scherzt Raphael Guidi.
»Nein, aber dass es sich wiederholen könnte …«
»Was meinen Sie?«
»Vergessen Sie es, ich möchte nicht darüber sprechen.«
»Dass sie ein zweites Mal für den Selbstmord eines Mädchens verantwortlich sind«, sagt Guidi langsam und legt etwas auf den Tisch.
»Ja.«
»Wer würde sich das Leben nehmen?«
»Beverly«, flüstert Axel und sieht, dass der Gegenstand, den Guidi vor ihn auf den Tisch gelegt hat, ein Foto ist.
Es liegt mit der Rückseite nach oben.
Axel streckt die Hand aus, obwohl er es eigentlich nicht will. Seine Finger zittern, als er das Bild umdreht. Er reißt die Hand zurück und schnappt nach Luft. Auf dem Foto sieht man Beverlys fragendes Gesicht im Licht eines Kamerablitzes. Er starrt das Bild an und versucht zu verstehen. Er begreift, dass es als Warnung gemeint ist, denn die Aufnahme ist vor ein paar Tagen entstanden, in seinem Haus, in der Küche, als Beverly eine Geige ausprobierte und anschließend ins Haus ging, um eine Vase für den Pusteblumenstrauß zu suchen.
Spende Boerse
103
Nach zwei Stunden auf dem Patrouillenboot der finnischen Marine sieht Joona zum ersten Mal Raphael Guidis schlanke Luxusjacht am Horizont dahingleiten. Im Sonnenlicht ähnelt sie einem glitzernden Kristallschiff.
Kapitän Pasi Rannikko kommt zurück, stellt sich neben ihn und nickt zu der großen Jacht hinüber.
»Wie nahe sollen wir herangehen?«, fragt er.
Joona wirft ihm einen eisgrauen Blick zu.
»So nahe, dass wir sehen können, was an Bord vorgeht«, sagt er ruhig. »Ich muss …«
Er verstummt jäh, als er plötzlich Stiche in den Schläfen spürt. Er stützt sich auf die Reling und versucht, langsam zu atmen.
»Was ist los?«, fragt Pasi Rannikko amüsiert. »Sind Sie etwa seekrank?«
»Es geht schon«, erwidert Joona.
Wieder pocht der Schmerz, und er hält sich fest, und es gelingt ihm, sich durch den gesamten Schmerzschub hindurch auf den Beinen zu halten. Er weiß, dass er jetzt auf keinen Fall seine Medikamente nehmen darf, denn sie könnten ihn unkonzentriert und müde machen.