Ich zog einen Briefbogen aus dem Fach und fing an zu rechnen. Die Kinderzeit, die Schule – das war ein Komplex, fern, irgendwo, schon nicht mehr wahr. Das richtige Leben begann erst 1916. Da war ich gerade Rekrut geworden, dünn, hochgeschossen, achtzehn Jahre alt, und übte nach dem Kommando eines schnauzbärtigen Unteroffiziers auf den Sturzäckern hinter der Kaserne Hinlegen und Aufstehen. An einem der ersten Abende kam meine Mutter in die Kaserne, um mich zu besuchen; aber sie mußte über eine Stunde auf mich warten. Ich hatte meinen Tornister nicht vorschriftsmäßig gepackt gehabt und mußte deshalb in der freien Zeit zur Strafe die Latrinen scheuern. Sie wollte mir helfen, aber das durfte sie nicht. Sie weinte, und ich war so müde, daß ich einschlief, als sie noch bei mir saß.
1917. Flandern. Middendorf und ich hatten in der Kantine eine Flasche Rotwein gekauft. Damit wollten wir feiern. Aber wir kamen nicht dazu. Frühmorgens fing das schwere Feuer der Engländer an. Köster wurde mittags verwundet. Meyer und Deters fielen nachmittags. Und abends, als wir schon glaubten, Ruhe zu haben, und die Flasche aufmachten, kam Gas und quoll in die Unterstände. Wir hatten zwar rechtzeitig die Masken auf, aber die von Middendorf war kaputt. Als er es merkte, war es zu spät. Bis sie abgerissen und eine neue gefunden war, hatte er schon zuviel Gas geschluckt und brach bereits Blut. Er starb am nächsten Morgen, grün und schwarz im Gesicht. Sein Hals war ganz zerrissen – so hatte er mit den Nägeln versucht, ihn aufzukratzen, um Luft zu kriegen.
1918. Das war im Lazarett. Ein paar Tage vorher war ein neuer Transport angekommen. Papierverbände. Schwere Verletzungen. Den ganzen Tag fuhren die flachen Operationswagen herein und hinaus. Manchmal kamen sie leer wieder. Neben mir lag Josef Stoll. Er hatte keine Beine mehr, aber er wußte es noch nicht. Es war nicht zu sehen, weil die Decke über einem Drahtkorb lag. Er hätte es auch nicht geglaubt, denn er spürte Schmerzen in den Füßen. Nachts starben zwei Leute bei uns im Zimmer. Einer sehr langsam und schwer.
1919. Wieder zu Hause. Revolution. Hunger. Draußen immerfort Maschinengewehrgeknatter. Soldaten gegen Soldaten. Kameraden gegen Kameraden.
1920. Putsch. Karl Bröger erschossen. Köster und Lenz verhaftet. Meine Mutter im Krankenhaus. Krebs im letzten Stadium.
1921 – Ich dachte nach. Ich wußte es nicht mehr. Das Jahr fehlte einfach. 1922 war ich Bahnarbeiter in Thüringen gewesen, 1923 Reklamechef einer Gummifabrik. Das war in der Inflation. Zweihundert Billionen Mark hatte ich monatlich verdient. Zweimal am Tage gab es Geld und hinterher jedesmal eine halbe Stunde Urlaub, damit man in die Läden rasen und etwas kaufen konnte, bevor der nächste Dollarkurs 'rauskam – dann war das Geld nur noch die Hälfte wert.
Und dann? Die Jahre darauf? Ich legte den Bleistift hin. Hatte keinen Zweck, das alles nachzurechnen. Ich wußte es auch nicht mehr so genau. War zu sehr durcheinandergegangen. Meinen letzten Geburtstag hatte ich im Café International gefeiert. Da war ich ein Jahr lang Stimmungspianist gewesen. Dann hatte ich Köster und Lenz wiedergetroffen. Und jetzt saß ich hier in der Aurewe: Auto-Reparatur-Werkstatt Köster und Co. Der Co. waren Lenz und ich, aber die Werkstatt gehörte eigentlich Köster allein. Er war früher unser Schulkamerad und unser Kompanieführer gewesen; dann Flugzeugführer, später eine Zeitlang Student, dann Rennfahrer – und schließlich hatte er die Bude hier gekauft. Erst war Lenz, der sich einige Jahre in Südamerika herumgetrieben hatte, dazugekommen – dann ich.
Ich nahm eine Zigarette aus der Tasche. Eigentlich konnte ich ganz zufrieden sein. Es ging mir nicht schlecht, ich hatte Arbeit, ich war kräftig, ich wurde nicht leicht müde, ich war heil, wie man das so nennt – aber es war doch besser, nicht allzuviel darüber nachzudenken. Besonders nicht, wenn man allein war. Und abends auch nicht. Da kam ab und zu noch einmal etwas von früher und starrte einen aus toten Augen an. Aber dafür hatte man den Schnaps.
Draußen quietschte das Tor. Ich zerriß den Zettel mit den Daten meines Lebens und warf ihn in den Papierkorb. Die Tür flog auf. Gottfried Lenz stand im Rahmen, lang, mager, mit strohblonder Mähne und einer Nase, die für einen ganz anderen Mann gepaßt hätte.»Robby«, brüllte er,»alter Speckjäger, steh auf und nimm die Knochen zusammen! Deine Vorgesetzten wollen mit dir reden!«
»Herrgott!«Ich stand auf.»Ich habe gehofft, ihr hättet nicht dran gedacht! Macht's gnädig, Kinder!«
»Das könnte dir so passen!«Gottfried legte ein Paket auf den Tisch, in dem es mächtig klirrte. Köster kam hinter ihm drein. Lenz baute sich vor mir auf.»Robby, was ist dir heute morgen zuerst begegnet?«
Ich dachte nach.»Ein tanzendes altes Weib.«