»Ich habe gesehen, was du mit ihm getan hast! Du hast versucht, ihn zu töten!« schrie Caramon Par-Salian an. Als Oberhaupt des Turms der Erzmagier – des letzten Turms der Erzmagier im unheimlichen Wald von Wayreth – war Par-Salian der Ranghöchste des Ordens der Zauberkundigen auf Krynn. Der junge Krieger hätte den verhutzelten alten Mann mit bloßen Händen erschlagen können. Er hatte sich in den vergangenen zwei Tagen eine Menge gefallen lassen müssen, aber nun war er mit seiner Geduld am Ende.
»Mord ist nicht unser Geschäft«, erwiderte Par-Salian mit seiner sanften Stimme. »Dein Bruder wußte, was ihn erwartet, wenn er sich einverstanden erklärt, sich diesen Prüfungen zu unterziehen. Er wußte, daß der Tod die Strafe für Versagen ist.«
»Er wußte es nicht wirklich«, murmelte Caramon und fuhr sich mit einer Hand über die Augen. »Und wenn er es wußte, kümmerte es ihn nicht. Manchmal trübt seine… seine Liebe zur Magie seine Vernunft.«
»Liebe? Nein.« Par-Salian lächelte traurig. »Ich glaube nicht, daß man es als Liebe bezeichnen kann.«
»Nun gut, was auch immer«, murrte Caramon. »Ihm war nicht bewußt, was du mit ihm vorhattest! Es ist alles so verdammt ernst…«
»Natürlich«, sagte Par-Salian nachsichtig. »Was würde mit dir geschehen, Krieger, wenn du in eine Schlacht treten würdest, ohne zu wissen, wie man mit dem Schwert umgeht?«
Caramon blickte finster.
»Versuche nicht, dich herauszuwinden…«
»Was würde geschehen?« fragte Par-Salian hartnäckig.
»Es wäre mein Tod«, antwortete Caramon mit der umständlichen Geduld, die man im Gespräch mit einer älteren, senilen Person an den Tag legt. »Jetzt…«
»Nicht nur du würdest sterben«, fuhr Par-Salian fort, »sondern auch deine Kameraden, die von dir abhängen, könnten aufgrund deiner Unfähigkeit sterben.«
»Ja«, sagte Caramon ungeduldig und wollte seine Schimpferei fortsetzen. Dann hielt er jedoch inne und schwieg.
»Du verstehst, was ich sagen will«, sagte Par-Salian freundlich. »Wir verlangen die Prüfung nicht von allen, die Magie anwenden. Es gibt viele mit der Gabe, die durch das Leben gehen und mit den ersten grundlegenden Zaubersprüchen zufrieden sind, die in den Schulen unterrichtet werden. Als Hilfe im Alltagsleben sind sie ausreichend, und mehr wollen sie auch nicht. Aber manchmal kommt jemand wie dein Bruder. Für ihn ist die Gabe mehr als ein Werkzeug, um durch das Leben zu kommen.
Für ihn ist die Gabe das Leben. Er strebt nach Höherem. Er sucht Wissen und Macht, die gefährlich werden können – nicht nur für den Anwender, sondern auch für andere. Darum zwingen wir alle Zauberkundigen, die in die Bereiche der wahren Macht vorstoßen wollen, sich der Prüfung zu unterziehen. So können wir die Unfähigen aussondern…«
»Du hast dein Bestes getan, um Raistlin auszusondern!« knurrte Caramon. »Er ist nicht unfähig, sondern zerbrechlich, und jetzt ist er verletzt, vielleicht liegt er im Sterben!«
»Nein, er ist nicht unfähig. Ganz im Gegenteil. Dein Bruder war sehr gut, Krieger. Er hat all seine Feinde besiegt. Er hat ausgesprochen gekonnt gehandelt. Fast zu gekonnt.« Par-Salian wirkte nachdenklich. »Ich frage mich, ob jemand ein besonderes Interesse an deinem Bruder hat.«
»Ich weiß es nicht.« Caramons Stimme wurde hart. »Und es interessiert mich auch nicht. Ich weiß nur, daß ich dem ein Ende bereiten werde. Und zwar sofort.«
»Das kannst du nicht. Es ist dir nicht gestattet. Er liegt nicht im Sterben…«
»Du kannst mich nicht aufhalten!« erklärte Caramon kühl.
»Magie! Tricks, um Kinder zum Lachen zu bringen! Wahre Macht! Pah! Dafür zu sterben lohnt sich nicht…«
»Dein Bruder glaubt daran«, entgegnete Par-Salian sanft.
»Soll ich dir zeigen, wie sehr er an seine Magie glaubt? Soll ich dir wahre Macht zeigen?«
Par-Salian nicht beachtend, trat Caramon einen Schritt vor, entschlossen, das Leiden seines Bruders zu beenden. Dieser Schritt war sein letzter – zumindest für eine Zeit. Er stand unbeweglich, auf der Stelle festgefroren, als wären seine Füße im Eis gefangen. Caramon wurde von Furcht ergriffen. Es war das erste Mal in seinem Leben, daß er unter einem Zauber stand, und das hilflose Gefühl, völlig unter der Kontrolle eines anderen zu sein, war schrecklicher, als sechs axtschwingenden Goblins gegenüberzustehen.
»Paß auf.« Par-Salian begann seltsame Worte zu singen. »Ich werde dir jetzt eine Vision geben…«
Plötzlich sah Caramon sich selbst den Turm der Erzmagier betreten. Er blinzelte erstaunt. Er geht durch die Türen und durch die schaurigen Korridore! Das Bild war so real, daß Caramon voller Beunruhigung und Angst auf seinen eigenen Körper schaute, ob er auch wirklich hier wäre. Aber er war da. Er schien zur gleichen Zeit an zwei Orten zu sein. Wahre Macht. Der Krieger begann zu schwitzen, dann erbebte er vor Kälte.
Caramon – der Caramon in dem Turm – sucht seinen Bruder. Er wandert durch die leeren Korridore und ruft Raistlins Namen. Und schließlich findet er ihn.
Der junge Magier liegt auf dem kalten Steinboden. Blut fließt aus seinem Mund. Neben ihm liegt der Körper eines dunklen Elfen, tot – durch Raistlins Magie. Aber der Preis dafür ist schrecklich. Der junge Magier scheint selbst dem Tod nahe zu sein.
Caramon läuft zu seinem Bruder und hebt den zerbrechlichen Körper mit seinen starken Armen hoch. Er ignoriert Raistlins verzweifelte Bitten, ihn allein zu lassen, und macht sich daran, seinen Zwillingsbruder aus dem bösen Turm zu tragen. Er wird Raistlin von diesem Ort fortbringen, komme, was wolle. Aber gerade als sie die Tür erreichen, sehen sie eine Geisterscheinung. Eine weitere Prüfung, denkt Caramon grimmig. Nun, dieser Prüfung wird Raistlin sich nicht unterziehen müssen. Sanft legt er seinen Bruder auf den Boden und wendet sich dieser Herausforderung zu.
Was dann geschieht, macht keinen Sinn. Der beobachtende Caramon blinzelt erstaunt. Er sieht sich einen Zauberspruch werfen! Er hat sein Schwert fallen lassen und hält seltsame Gegenstände in den Händen und beginnt Worte zu sprechen, die er nicht versteht! Blitze schießen aus seinen Händen! Die Geisterscheinung verschwindet mit einem Aufschrei.
Der richtige Caramon wirft Par-Salian einen verstörten Blick zu, aber der Magier schüttelt nur den Kopf und zeigt wortlos zu dem Bild, das vor Caramons Augen flackert. Ängstlich und verwirrt wendet sich Caramon wieder der Vision zu.
Raistlin erhebt sich langsam.
»Wie hast du das geschafft?« fragt Raistlin Caramon, der an der Mauer lehnt.
Caramon weiß es nicht. Wie konnte er etwas tun, wozu sein Bruder jahrelange Studien brauchte! Aber der Krieger sieht sich selbst eine schlagfertige Erklärung abgeben. Caramon sieht auch den schmerzlichen und gequälten Blick im Gesicht seines Bruders.
»Nein, Raistlin!« schreit der echte Caramon. »Es ist ein Trick! Ein Trick von diesem alten Mann! Ich kann so etwas nicht! Ich habe dir niemals deine Magie gestohlen! Niemals!«
Aber der Caramon in der Vision – großspurig und draufgängerisch – macht sich daran, seinen »kleinen« Bruder zu »befreien«.
Raistlin hebt seine Hände und hält sie seinem Bruder entgegen. Aber nicht, um ihn zu umarmen. Nein. Der junge Magier, krank und verletzt und verzehrt vor Eifersucht, beginnt die Worte eines Zaubers zu sprechen – den letzten Zauber, zu dem er noch Kraft hat.
Flammen blitzen aus Raistlins Händen. Das magische Feuer bauscht sich vor und verschlingt seinen Bruder…
Caramon sieht, vor Entsetzen wie gelähmt, zu, wie er in der Vision von dem Feuer verzehrt wird… Er sieht zu, wie sein Bruder auf dem kalten Steinboden zusammenbricht.