Читаем Die Vermessung der Welt полностью

Humboldt durchlief das Kurrikulum der Akademie in einem Vierteljahr. Morgens war er sechs Stunden unter der Erde, nachmittags hörte er Vorlesungen, am Abend und die Hälfte der Nacht lernte er für den nächsten Tag. Freunde hatte er keine, und als sein Bruder ihn zu seiner Hochzeit einlud – er habe eine Frau gefunden, wie sie ihm gezieme, eine, die nicht ihresgleichen habe auf der Welt –, antwortete er höflich, daß er nicht kommen könne, ihm fehle Zeit. Er kroch durch die niedrigsten Schächte, bis er sich an seine Platzangst gewöhnt hatte wie an einen nicht nachlassenden, allmählich jedoch erträglichen Schmerz. Er stellte Temperaturmessungen an: Je tiefer man hinabstieg, desto wärmer wurde es, und das widersprach allen Lehren Abraham Werners. Ihm fiel auf, daß es noch in der tiefsten Höhlendunkelheit Vegetation gab. Das Leben schien nirgendwo aufzuhören, überall fand sich noch eine Form von Moos und Wucherung, irgendeine Art verkümmerter Gewächse. Sie waren ihm unheimlich, und darum zerlegte und untersuchte er sie, ordnete sie nach Klassen und schrieb eine Abhandlung darüber. Jahre später, als er ähnliche Pflanzen in der Höhle der Toten sah, war er vorbereitet.

Er machte den Abschluß und bekam eine Uniform. Wo immer er auch hinkam, sollte er sie tragen. Sein Amtstitel war der eines Assessors beim Berg-und Hüttendepartement. Er schäme sich selbst, schrieb er seinem Bruder, daß er sich so darüber freue.

Wenige Monate später war er schon Preußens zuverlässigster Bergwerksinspektor. Er ließ sich durch Hütten, Torfstechereien und zu den Hochöfen der Königlichen Porzellanmanufaktur fuhren; überall erschreckte er die Arbeiter durch die Geschwindigkeit, mit der er sich Notizen machte. Er war ständig unterwegs, schlief und aß kaum und wußte selbst nicht, was all das sollte. Etwas sei an ihm, schrieb er seinem Bruder, das ihn befürchten lasse, er verliere den Verstand.

Zufällig stieß er auf Galvanis Buch über den Strom und die Frösche. Galvani hatte abgetrennte Froschschenkel mit zwei unterschiedlichen Metallen verbunden, und sie hatten gezuckt wie lebendig. Lag das nun an den Schenkeln, in denen noch Lebenskraft war, oder war die Bewegung von außen gekommen, aus dem Unterschied der Metalle, und von den Froschteilen bloß sichtbar gemacht? Humboldt beschloß, es herauszufinden.

Er zog sein Hemd aus, legte sich aufs Bett und wies einen Diener an, zwei Aderlaßpflaster auf seinen Rükken zu kleben. Der Diener gehorchte, Humboldts Haut warf zwei große Blasen. Und jetzt solle er die Blasen aufschneiden! Der Diener zögerte, Humboldt mußte laut werden, der Diener nahm das Skalpell. Es war so scharf, daß der Schnitt kaum schmerzte. Blut tropfte auf den Boden. Humboldt befahl, ein Stück Zink auf eine der Wunden zu legen.

Der Diener fragte, ob er eine Pause machen dürfe, ihm sei nicht wohl.

Humboldt bat ihn, sich nicht dumm anzustellen. Als ein Silberstück die zweite Wunde berührte, ging ein schmerzhaftes Pochen durch seine Rückenmuskeln, bis hinauf in den Kopf. Mit zitternder Hand notierte er: Musculus cucularis, Hinterhauptbein, Stachelfortsätze des Rückenwirbelbeins. Kein Zweifel, hier wirkte Elektrizität. Noch einmal das Silber! Er zählte vier Schläge, in regelmäßigem Abstand, dann wichen die Farben aus den Gegenständen.

Als er wieder zu sich kam, saß der Diener auf dem Boden, das Gesicht bleich, die Hände blutig.

Weiter, sagte Humboldt, und mit seltsamem Schrekken wurde ihm klar, daß etwas in ihm Lust empfand. Jetzt die Frösche!

Das nicht, sagte der Diener.

Humboldt fragte, ob er sich eine neue Anstellung suchen wolle.

Der Diener legte vier tote, sorgsam gereinigte Frösche auf Humboldts blutigen Rücken. Aber jetzt reiche es, sagte er, sie seien doch Christenmenschen.

Humboldt ignorierte ihn und befahl: Wieder das Sil-ber! Schon kamen die Schläge. Bei jedem davon, er sah es im Spiegel, sprangen die Froschleiber wie lebendig. Er biß in das Kissen, der Stoff war naß von seinen Tränen. Der Diener kicherte hysterisch, Humboldt wollte Notizen machen, aber seine Hände waren zu schwach. Mühsam stand er auf. Aus den zwei Wunden lief Flüssigkeit, so ätzend, daß sie seine Haut entzündete. Humboldt versuchte etwas davon in einem Glasröhrchen aufzufangen, aber seine Schulter war geschwollen, und er konnte sich nicht drehen. Er sah den Diener an.

Der schüttelte den Kopf.

Na gut, sagte Humboldt, dann solle er jetzt in Gottes Namen den Arzt holen! Er wischte sich das Gesicht ab und wartete, bis er wieder fähig war, die Hände zu gebrauchen und das Nötigste aufzuschreiben. Strom war geflossen, das hatte er gespürt, und entsprungen war er nicht seinem Körper und nicht den Fröschen, sondern der chemischen Feindschaft der Metalle.

Es war nicht leicht, dem Arzt zu erklären, was hier geschehen war. Der Diener kündigte in der Woche darauf, zwei Narben blieben, und die Abhandlung über die lebendige Muskelfaser als leitende Substanz begründete Humboldts wissenschaftlichen Ruf.

Перейти на страницу:

Похожие книги