Sax zog die Riemen an der Apparathülle fest, erhob sich und trat einen Schritt an ihn heran. „Beherrschen Sie sich, Navigator!“
Rohan kniff die Augen zusammen und ballte die Fäuste — doch vergebens. Wie üblich in solchen Augenblicken, erwachte in ihm der Jähzorn, den zu bändigen ihm besonders schwerfiel.
„Verzeihung“, stammelte er. „Aber was bedeutet das nun?“
Sax knöpfte den Skaphander auf, der zu Boden glitt, und von seiner Stattlichkeit war nichts mehr vorhanden. Er war wieder der hagere, gebeugte Mann mit den schmalen Schultern und den feinnervigen Händen.
„Ich weiß nicht mehr als Sie“, antwortete er. „Vielleicht sogar weniger.“
Rohan begriff nichts mehr, aber er klammerte sich an Sax' letzte Worte.
„Wieso? Warum weniger?“
„Weil ich nicht hier war. Ich habe außer diesem Leichnam nichts gesehen. Sie sind doch heute morgen hier gewesen.
Sagt Ihnen dieses Bild nichts?“
„Nein. Die. . die haben sich bewegt. Ob sie da noch gelebt haben? Was war das nur an ihnen? Diese Flecke?“
„Sie haben sich nicht bewegt. Das war eine Täuschung. Die Engramme werden wie eine Fotografie festgehalten. Manchmal ist es ein übereinander von mehreren Bildern. In diesem Fall war es das nicht.“
„Aber die Flecke? Sind sie auch eine Täuschung?“
„Ich weiß nicht. Alles ist möglich. Aber ich glaube es nicht.
Was meinen Sie, Nygren?“
Der kleine Arzt hatte sich schon aus seinem Skaphander gepellt.
„Ich weiß nicht“, antwortete er. „Vielleicht war es auch kein Artefakt. An der Decke waren keine, nicht wahr?“
„Solche Flecke? Nein. Nur an den Leichen und auf dem Fußboden. Und ein paar an den Wänden…“
„Wenn das die zweite Projektion gewesen wäre, dann hätten sie wohl das ganze Bild bedeckt“, meinte Nygren.
„Aber das ist nicht sicher. Bei solchen Engrammen hängt =viel vom Zufall ab.“
„Und die Stimme? Dieses… Gestammel?“ forschte Rohan verzweifelt.
„Ein Wort war deutlich zu verstehen: Mama. Haben Sie es gehört?“
„Ja. Aber da war noch etwas. ›Ala… lala‹. Das wiederholte sich unablässig.“
„Ja, weil ich die ganze Hinterhauptlappenrinde abgesucht habe“, brummte Sax. „Das heißt die ganze Gegend des akustischen Gedächtnisses“, erklärte er Rohan. „Das war das Ungewöhnliche.“
„Diese Wörter?“
„Nein, die nicht. Ein Sterbender kann an alles mögliche denken. Wenn er an seine Mutter gedacht hätte, dann wäre das durchaus normal. Aber sein Hörbereich ist leer. Verstehen Sie?“
„Nein, keine Ahnung. Wieso leer?“
„Meistens ist die Untersuchung der Hinterhauptlappen ergebnislos“, erläuterte Nygren. „Dort sind zu viele Engramme, zu viele gespeicherte Wörter. Das ist so, als wollten Sie hundert Bücher auf einmal lesen. Ein Chaos entsteht. Aber er…“ — er warf einen Blick auf die längliche Gestalt unter dem weißen Laken — „hatte dort gar nichts. Keine Wörter, nur die paar Silben.“
„Ja, stimmt. Ich habe vom sensorischen Sprachzentrum bis zum Sulcus Rolandi alles abgesucht“, sagte Sax. „Deswegen sind die Silben immer wiedergekehrt. Es waren die einzigen phonematischen Strukturen, die erhalten geblieben sind.“
„Und der Rest, die anderen?“
„Sind nicht da.“ Sax hob, als.hätte er die Geduld verloren, den schweren Apparat so heftig vom Boden auf, daß der Ledergriff knirschte. „Sie sind nicht da, und fertig. Fragen Sie mich bitte nicht, was damit geschehen ist. Dieser Mann hat das ganze akustische Gedächtnis verloren.“
„Und das Bild?“
„Das ist etwas anderes. Das hat er gesehen. Er brauchte nicht einmal zu verstehen, was er sah. Ein Fotoapparat versteht auch nichts und hält doch fest, worauf man ihn richtet. Übrigens weiß ich nicht, ob er es verstanden hat oder nicht.“
„Würden Sie mir helfen, Herr Kollege?“ Die beiden Ärzte gingen mit den Apparaten hinaus, die Tür fiel hinter ihnen zu.
Rohan war allein. Da packte ihn eine solche Verzweiflung, daß er an den Tisch trat, das Laken beiseite schleuderte, dem Toten das Hemd aufknöpfte, das bereits aufgetaut und weich geworden war, und aufmerksam die Brust untersuchte.
Er zitterte bei der Berührung, denn sogar die Haut war geschmeidig geworden. Mit dem Auftauen des Gewebes war eine Muskelerschlaffung eingetreten. Der bis dahin unnatürlich angehobene Kopf war kraftlos hinuntergesunken, als schliefe der Mann wirklich. Rohan suchte an dem toten Körper Spuren einer rätselhaften Epidemie, einer Vergiftung oder Insektenstiche, aber er fand nichts. Zwei Finger der linken Hand spreizten sich, so daß eine kleine, leicht geöffnete Wunde zu sehen war, die zu bluten begann. Die roten Tropfen fielen auf den weißen Schaumgummibezug des Tisches. Das war zuviel für Rohan. Ohne auch nur das Tuch wieder über den Toten zu decken, stürzte er aus der Kajüte, stieß die Leute draußen zur Seite und lief dem Hauptausgang zu, als wäre jemand hinter ihm her. An der Schleusenkammer hielt Jarg ihn an, half ihm, den Sauerstoffapparat umzuschnallen und steckte ihm sogar das Mundstück zwischen die Lippen.
„Nichts gefunden, Navigator?“
„Nein, Jarg. Nichts. Nichts!“